Buchtipps
Grenzgänger wider Willen
Von Borderline-Persönlichkeiten ist nicht nur
in psychologischen Fachbüchern die Rede, sondern der Begriff taucht
auch in Lebenshilfe-Büchern und in Beiträgen einiger Zeitschriften
auf. Für etliche Psychotherapeuten, vor allem auch für einige Psychiater,
ist Borderline ein Modewort geworden, mit dem sich diagnostisch um Eindeutigkeit
verlegene Therapeuten fachlich tarnen oder sich der klinischen Psychologie
eher unkundige Zeitgeister aufmotzen. Doch ganz so einfach lässt sich
der Sachverhalt nicht abtun, was auch die stark anschwellende solide Fachliteratur
belegt, die zu dem Thema erscheint. Bislang wurde die Borderline-Persönlichkeit
aus psychoanalytischer Sicht betrachtet. Doch mit der aus dem Amerikanischen übersetzten
Neuerscheinung des Buches von Nathan Schwartz-Salant wird ein kräftiger
Akzent auf den Verstehensansatz Carl G. Jungs gesetzt und die Borderline-Störung
nicht nur als Syndrom erklärt, sondern als eigenständige Aussage
einer Persönlichkeit über innere und äußere Welt aufgegriffen.
Der Begriff (border = Grenze; line = Linie) beschreibt eine Persönlichkeit
auf der Grenze zwischen Neurose und Psychose. Neurose ist eine seelische
Störung, die sich auf das Verhalten des Betreffenden beträchtlich
auswirkt, ihn in seinen Entscheidungs- und Wachstumsmöglichkeiten einschränkt
und von ihm eingesehen werden kann. Die Psychose ist eine schwere seelische
Störung, die den Menschen von sich und der Wirklichkeit massiv entfremdet
und ihm zumindest zeitweise verunmöglicht, für sich und andere
sorgend zu leben. Für die Entstehung von Neurosen und Psychosen gibt
es unterschiedliche Erklärungsmodelle, von denen das der Psychoanalyse
am meisten vorherrscht. Ende der dreißiger Jahre verdichteten sich
erste Hinweise darauf, dass es Patienten gibt, deren psychische Symptomatik
auf der Grenze der Neurose und Psychose angesiedelt ist. Seit den siebziger
Jahren beobachten Psychotherapeuten verstärkt Persönlichkeitsstörungen,
die mit schwacher und übermäßiger emotionaler Besetzung und
Organisation des eigenen Ichs einhergehen. Das irritiert auch das klassische
Konzept der Psychoanalyse, das einen heftigen Konflikt zwischen innerseelischen
Instanzen wie Es, Über-Ich und Ich voraussetzt, was beim Borderline-Syndrom
in der Weise nicht der Fall ist.
Das Borderline-Syndrom setzt sich aus verschiedenen Symptomen zusammen, die
die Psychoanalytikerin Christa Rhode-Dachser in ihrem Buch Anfang der achtziger
Jahre übersichtlich zusammengestellt hat: Dauerhafte, frei umher schwebende
Angst; vielfältige Angstzustände, die die soziale und körperliche
Beweglichkeit des Betreffenden spürbar einschränken; Zwangsvorstellungen
und -handlungen, die zunächst als nicht ichtypisch erlebt werden, später
aber auf einmal zu großer persönlicher Gewissheit und Sinnhaftigkeit
erklärt werden; verschiedene, teils sehr subtile Körpersymptome,
in denen sich ein innerseelischer Erregungszustand Geltung verschafft; auseinander
laufende Reaktions- und Verhaltensweisen mit zeitlich begrenzter Trübung
des klaren Bewusstseinszustands, wobei viele Patienten dagegen erfolgreiche
Abwehrstrategien ausbilden; depressive Zustände; ungeregelte, vielgestaltige
Sexualität bis in stark abweichende Formen hinein; gelegentlicher Verlust
der Selbstkontrolle. Nicht jeder Borderline-Patient weist eine so auffällige
Symptomatik auf, von der aus übrigens nicht gleich auf die Störung
geschlossen werden kann. Bisweilen kommen Menschen in die therapeutische
Praxis, deren Erscheinungsbild von Beschwerden sehr diffus ist. Ihre Klagen
wirken oft - wie Rhode-Dachser treffend ausführt - "wie eine karikaturhafte Übersteigerung
der Klagen des 'modernen Menschen'". Es geht um innere Leere, Nichtwissen,
wer man sei, Orientierungslosigkeit, Kontaktängste, sexuelle Störungen
und Arbeitsprobleme, häufig verbunden mit körperlich wechselnden
Leiden.
Im Umgang mit solchen Patienten hat sich die Unterscheidung von stützender
und expressiver Psychotherapie bewährt. Einer der führenden Köpfe
auf dem Gebiet, Otto F. Kernberg, hat ebenfalls in den achtziger Jahren in
seinem Buch "Schwere Persönlichkeitsstörungen" diese
Unterscheidung vorangetrieben und befürwortet, von Anfang an expressiv,
das heißt, nicht stützend, sondern analytisch und aufdeckend zu
arbeiten. Stützende Therapie gewährt dem Patienten zuerst einen
freien, haltenden, strukturierenden Raum, den der Therapeut M. Masud R. Khan
Möglichkeitsraum nennt und für entscheidend wichtig hält.
Hier werden im Schutz der Therapie dem Patienten Erfahrungen von sich ermöglicht,
die geeignet sind, ihm die Angst vor sich selbst und anderen zu mindern.
Die unkonventionelle Methode Khans greift in das Alltagsleben des Betreffenden
ein, wenn es gerechtfertigt erscheint, da auf diese Weise der Patient zu
analytischer Arbeit überhaupt erst fähig wird. Aus der ausgezeichneten
Darstellung einer Borderline-Therapie von Vamik D. Volkan betrifft dieses
Vorgehen die Stufe eins eines sechsstufigen Prozesses: "Die Errichtung
einer Basis der Realität". Doch Volkan befürwortet auch gleich
in der Stufe eins schon expressive Therapieanteile. Weder zimperlich noch
autoritär muss der Therapeut auf den "Umgang mit der Übertragung
in der expressiven Psychotherapie" (Kernberg) zugehen und darf keinen
Zweifel daran lassen, dass er die meist gespaltenen Projektionen des Klienten
auf sich und seine eigenen Reaktionen darauf schrittweise zum Thema einer
Analyse macht. Kernberg wendet sich entschieden gegen eine stützende
Therapie, denn "einer unmittelbaren Besserung folgen dann später
die Rationalisierungen der Übertragungsentwicklung durch den Patienten",
der dann im Therapeuten den guten Vater, die gute Mutter sieht, denen er
seinen Fortschritt verdankt. Die einengenden Projektionen sind damit nicht
aufgelöst, da es entscheidend wäre, "die nährende Brust
in sich selbst geschaffen" (Volkan) zu haben.
Für Schwartz-Salant ist die Innenwelt der Borderline-Persönlichkeit
stark mit Archetypen aufgeladen, was besonderer Beachtung bedürfe. Die
Grenzgänger wider Willen auf der Grenze und in der Spaltung von gut
und böse, Wach- und Traumleben, Zivilisation und Wildnis, menschlicher
und göttlicher Realität haben Zugangsmöglichkeiten zu spirituellen,
transzendenten Erfahrungen, wie sie nicht jedem offen stehen. Das permanente
(Kindheits-) Gefühl der Verlassenheit bringt ein starkes Sehnen und
Empfindung für Vereinigung mit anderer Wirklichkeit hervor, das oft
enttäuscht wird und die Verlassenheitsangst erneut bestätigt. So
deutet der Schwartz-Salant die Erfahrungen von Johannes vom Kreuz. Psychotherapie
erscheint deshalb als existentielle Herausforderung, die nach Benedetti mittels
künstlerischen Schaffens in Text, Bild, Musik und Stein ermöglichen
kann, dass im Kunstwerk der Klient eine Aussage über sich und über
die Welt integrieren, Verlassensein und Zugehörigkeit in eine lebensförderliche
Balance bringen kann. In Erweiterung und Voraussetzung der psychoanalytischen
Sicht ist Menschen in bestimmten Grenzsituationen zu helfen, ihre Eindrücke
und Bilder so organisiert und integriert auszudrücken, dass sie weder
sich noch andere beschädigen, sondern alle Beteiligten mit ihrer Sicht
der Wirklichkeit bereichern.
Dr. Norbert Copray
Rezensierte Bücher:
Raymond Battegay: Grenzsituation. Fischer/Geist und
Psyche 11011
Gaetano Benedetti: Psychotherapie als
existentielle Herausforderung. Vandenhoeck & Ruprecht.
277 Seiten
M. Masud R. Khan: Erfahrungen im Möglichkeitsraum. Psychoanalytische Wege
zum verborgenen Selbst. Suhrkamp. 323 Seiten
Otto F. Kernberg: Schwere Persönlichkeitsstörungen. Klett-Cotta. 539
Seiten
Christa Rhode-Dachser: Das Borderline-Syndrom. Huber. 196 Seiten
Nathan Schwartz-Salant: Die Borderline-Persönlichkeit. Walter. 368 Seiten
Vamik D. Volkan/Gabriele Ast: Eine Borderline
Therapie. Vandenhoeck & Ruprecht.
200 Seiten
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