Buchtipps
Kein Anschluss unter dieser Nummer?
Thomas H. Eriksen
Die Tyrannei des Augenblicks
Die Balance finden zwischen Schnelligkeit und Langsamkeit. Herder. 237 Seiten
Wer kann noch Augenblicke
genießen, wenn dauernd
etwas passiert, reizt, auf sich aufmerksam macht und alle Grenzen durchdringt?
Da bleibt nur, die Augenblicke zu stapeln und die Gegenwart zu verbreitern.
Die große Erlösung vom Zeitstress hat nicht stattgefunden. Im Gegenteil!
Weil wir schneller ankommen, können wir auch früher etwas erledigen
und gleich noch etwas anderes mitmachen. Dann können wir auch wieder
früher zurückkehren und gleich noch einen anderen Termin mitnehmen.
Email, Mailbox, Fax, Voicebox, Palmtops, Notebooks, ICE, Handy und SMS haben
uns die Arbeit nicht wirklich erleichtert, sondern vermehrt, denn überall
wo Zeit- und Energieersparnis drauf steht, steckt eine Fülle von Reizen
und Aufgaben drin. Wer nicht parallel drei, vier Dinge erledigt, wer Augenblicke
nicht stapeln kann, fällt aus dem Akkord und ist von vorgestern. Kein
Anschluss unter dieser Nummer. Dem Kulturanthropologen Thomas Eriksen ist
es nicht viel anders gegangen. So kam er nie zu seinem Forschungsprojekt,
weil jedes Mal wieder eine Masse neuer Nachrichten, Aufforderungen, Vorgänge
und Störungen zu verarbeiten war, bis schließlich die beabsichtigte
Arbeit im Augenblick unterging. Wer kennt das nicht?
Eriksen wollte heraus finden, was mit ihm vorgeht und was uns alle auf eine
neue, noch nicht ausreichend durchschaute Art und Weise gefangen nimmt und
hält. Seine zentrale These ist, „dass der ungehinderte und riesige
Informationsfluss in unserer Zeit bald alle Lücken gefüllt hat.
Damit wird alles zu einer hysterischen Folge gesättigter Augenblicke
ohne „Vorher“ und „Nachher“, ohne „Hier“
und „Dort“, durch die sie getrennt würden. Sogar das „Hier
und Jetzt“ ist bedroht, weil sich der nächste Augenblick so schnell
einstellt, dass es schwierig wird, in der Gegenwart zu leben“. Also
sind Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft durch die „Tyrannei des Augenblicks“ bedroht,
der die meisten Menschen inzwischen zu erliegen scheinen. Die knappste Ressource
der Gegenwart ist die Zeit geworden!
Eriksen weiß die Effekte des Informationszeitalters durchaus zu würdigen.
Aber er sieht sich um dessen Früchte gebracht, weil sich eine Eigendynamik
entwickeln hat, die kein wirkliches Verweilen mir – außer im Urlaub,
der auf wenige Wochen begrenzt ist! – zulässt. Wie ist es dazu
gekommen und was bedeutet das? Dazu gibt der Autor einen Überblick über
die Vorgeschichte und die Motoren, die zur Tyrannei des Augenblicks geführt
haben. Der Beschleunigung ist ein eigenes Kapitel gewidmet, wobei der Autor
keineswegs Geschwindigkeit ablehnt. Doch sein Bemühen gilt der Balance
zwischen „Schnelligkeit und Langsamkeit“ und der Wiedereroberung
ihrer Gestaltung durch die Menschen. Denn die Schnelligkeit zerstückelt
und verbindet nicht, Qualität bleibt auf der Strecke, weil niemand Zeit
dafür hat. Die Kombination von Beschleunigung und exponentialem Wachstum
führt zur „Stapelung“. Ähnlich dem Internet existieren
keine linearen, kausal verknüpften Anordnungen mehr, sondern alles wird
miteinander verlinkt, gewissermaßen aufeinander gestapelt. Was das für
den Alltag und die Kultur der Menschen bedeutet, zeigt Eriksen im vorletzten
und siebten Kapitel, ehe er im letzten Kapitel verdeutlicht, wie die Tyrannei
des Augenblicks einen neuen Code, ein neues Ordnungsgefüge unserer Existenz
ausmacht. Diesen Code nicht auf sich beruhen zu lassen, sondern aufzuknacken,
zu verändern und seinem Leben anzupassen statt umgekehrt sein Leben an
diesen Code auszuliefern, ist Eriksens Abschlussplädoyer. Unter anderem
ist Bücher lesen eines der besten Trainings, um Schnelligkeit und Langsamkeit
immer wieder ins Lot zu bringen und dadurch selbst ins Zeitlot zu kommen.
Bewusst zwischen schneller und langsamer Zeit umschalten zu können und
sich zu erlauben, macht den Menschen zum Subjekt seiner Zeit. Eriksen hat
noch mehr gute Hinweise dieser Art, die Lust auf ein neues Zeitgefühl
machen, das weder nostalgisch von gestern noch das des rasenden Augenblicks
ist.
Dr. Norbert Copray
|