Buchtipps
Wenn die Fahne fliegt, ist der Verstand in der Trompete
Was dem
Streit über Zuwanderung und Integration fehlt, ist der tolerante Grundansatz,
der der Intoleranz aktiv entgegen tritt und nachhaltig für Rahmenbedingungen
der Toleranz und der Integration sorgt.
Manfred Sader, emeritierter Psychologieprofessor aus Münster, legt mit
seinem Buch "Toleranz und Fremdsein" ein Meisterwerk zum Verständnis
und zum Umgang mit Intoleranz und Fremdenfeindlichkeit vor. Brillant in Sprache
und Darstellung, gekonnt im Ansatz und überragend im Inhalt versteht
es Sader, die wichtigsten Aspekte auf den Punkt zu bringen und für die
Praxis relevant zu machen. Unter seinen 16 Schlüsselworten finden sich
Nationalismus, Information, Vorbilder, Vertrauen, interkulturelles Zusammenleben,
Konflikte, Aufrichtigkeit, Perspektivwechsel, Selbstkonzept und Netzwerke.
In jedem Kapitel sind neben pointierter Information auf dem neuesten Stand
vor allem auch realistische Einschätzungen zu finden, was praktisch geht
und was nicht, so dass es nicht zu wirklichkeitsfremden Ermahnungen und zur
Überforderung der Möglichkeiten von Menschen und Gesellschaft kommt.
Im Grunde formuliert Sader mit seinen 16 Stichworten die Erfolgsbedingungen
für Migration und Integration, sofern sie im Alltagsleben des Einzelnen
und in gesellschaftlichen Zusammenhängen zu schaffen sind. Eine tragende
Rolle kommt dabei der Toleranz zu. Sader versteht darunter nicht nur das Dulden
und Ertragen ungewohnter oder fremder Eigenarten, sondern darüber hinaus
und vor allem die "Anerkennung des Anderen als zwar anders, aber wertvoll
und gleichberechtigt" sowie die Mitverantwortung für das Zusammenleben
und das Gemeinwesen. Das beinhaltet dann konsequenterweise auch Mut und Zivilcourage,
denn wo sich aktive Intoleranz zeigt, muss aktive Intoleranz in Form von Zivilcourage
und Kritik geübt werden, wie Rupert Lay in seinem Buch "Wie man
sich Feinde macht" (Econ) zeigte. Dafür ist allerdings laut Sader
von Nöten, Intoleranz identifizieren und in seinen Ursachen verstehen
zu können, sonst begibt man sich in einen vergeblichen Kampf. Unter den
Entstehungsmechanismen der Intoleranz führt Sader auch Ordnungsbedürfnis,
Unkenntnis, Gruppenverhalten, Denkvereinfachung, Stärkung des Selbstkonzepts
auf Kosten anderer und den absichtsvollen Einsatz von Intoleranz an. Diese
Bedingungen lassen sich in Heiner Geißlers Band "Intoleranz. Vom
Unglück unserer Zeit" (Kiepenheuer & Witsch. 271 Seiten.) wieder finden, wenn der Politiker die Intoleranz vor allem im gesellschaftspolitischen
Bereich beschreibt. Geißler traut den Religionen nicht zu, Fundament
für konsequente Toleranz zu sein und plädiert daher für die
demokratisch legitimierte Verfassung, um ein tolerantes Mit- und Nebeneinander
in der Gesellschaft zu ermöglichen und zu regeln. Verfassungspatriotismus
als Leitkultur kanalisiert auch den Nationalismus, für den das ukrainische
Sprichwort gelte: "Wenn die Fahne fliegt, ist der Verstand in der Trompete".
Bei der Beschreibung der "Pogromstimmung" in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion
gegenüber Rita Süßmuth, weil diese der Bitte von Gerhard Schröder
gefolgt war, den Vorsitz der Zuwanderungskommission zu übernehmen, läuft
es einem kalt den Rücken herunter. In anderen Parteien wird es ähnliche
Ereignisse geben, die nicht gerade zu einer hohen Meinung über die persönliche
Reife der Volksvertreter verhelfen. Die Schwäche des ansonsten beeindruckenden
Geißler-Buches liegt darin, dass Geißler seinen eigenen Anteil
an intoleranter Atmosphäre nicht ausreichend beleuchtet. Es reicht nicht
aus, die frühere Zuspitzung von Schlagworten und Schmähungen mit
der ehemaligen Rolle als Generalsekretär der CDU zu rechtfertigen. Wie
Sader gelungen zeigt, ist das Maß der Intoleranz der von meiner Haltung
Betroffene und nicht ich selbst, der ich gern ganz andere Etiketten für
mein Verhalten bevorzuge. Eine Medaille, zwei Seiten: Was Geißler trefflich
beschreibt, bringt Sader realistischen Lösungen näher. Sader sei
Dank.
Dr. Norbert
Copray
Rezensierte
Bücher:
Manfred
Sader: Toleranz und Fremdsein. 15 Stichworte zum Umgang mit Intoleranz
und Fremdenfeindlichkeit. Beltz TB 116. 287 Seiten
Heiner
Geißler: Intoleranz. Vom Unglück unserer Zeit. Kiepenheuer
& Witsch. 2002. 271 Seiten
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