Buchtipps
Vom Passagier, der glaubt, er sei der Kapitän
Stichwort
Gehirn
Die Gehirnforschung
und damit die gesamte Neurowissenschaft gehört heute zu den aufregendsten Forschungsgebieten. In wenigen Jahrzehnten
sind ein Reihe von Entdeckungen gemacht worden, die auch für andere
Bereiche bis in bildungspraktische, ethische und religionswissenschaftliche
Fragestellungen hinein von besonderer Wichtigkeit sind. Natürlich stehen
die heutigen Forscher auf den Schultern zahlreicher Vorgänger, wie sie
Peter Düweke durch eine „Kleine Geschichte der Hirnforschung“ mit
ihren Leistungen vorstellt. Das flott geschriebene Bändchen beschreibt
Thesen und Lebenswerk der Forscher, die teilweise bis heute bedeutsam sind.
Viele Neurowissenschaftler gehen heute davon aus, dass das Gehirn keinen
Steuermann hat – wie Düweke schreibt. „Das Schiff steuert
sich selbst. Die Person auf der vermeintlichen Kommandobrücke ist ein
Passagier, der glaubt, er sei der Kapitän.“ Geist, Bewusstsein,
Ich tauchen innerhalb dieses Prozesses auf, gewissermaßen als Spiegelungsprodukte
der Gehirnaktivitäten. Wer Gehirn sagt, assoziiert meist Bewusstsein.
Die meisten Experten halten das Bewusstsein für ein Produkt des Gehirns.
Doch zwischen Auftauchen, Hervorbringen und Produzieren bestehen Unterschiede,
die noch nicht aufgeklärt sind. John J. Ratey findet es „peinlich
anmaßend“, wie leidenschaftlich wir über das Bewusstsein
diskutieren, obwohl wir darüber noch so wenig wissen. Der Psychiatrieprofessor
hat eine unglaublich profundes und auch Laien gut informierendes Werk verfasst,
das kaum eine Frage zum aktuellen Stand offen lässt, die „das
menschliche Gehirn“ betrifft. Seine Hilfsthesen zum Verhältnis
von Gehirn, Bewusstsein und Geist sind: Bewusstsein ist das Zusammenspiel
aller Gehirnleistungen in eine Richtung der Aufmerksamkeit. Und der Geist
entsteht, wenn sich dieses Bewusstseinssystem mit dem Langzeitgedächtnis
zusammen tut. Doch befriedigend findet der Autor seine Thesen selbst noch
nicht. Colin McGinn glaubt in seinem Buch „Wie kommt der Geist in die
Materie?“, dass wir das Problem niemals lösen können, wie „Gehirne
Bewusstsein überhaupt entstehen lassen können“. Er widmet
sein Buch der Erklärung, warum der Mensch vermutlich dieses Rätsel
niemals entschlüsseln wird. Die Kombination aus philosophischen und
neurophysiologischen Überlegungen ist gleichermaßen anregend wie
anspruchsvoll. Verwandt damit ist Günter Schultes Buch über „Neuromythen“.
Der Philosoph durchkämmt die Begrifflichkeiten und Modelle, mit denen
sich die Gehirnforscher neuerdings zu Wort melden. Er spießt ihre Mythenbildung
auf, die sich letztlich aus dem Glauben speist, Phänomene wie Bewusstsein,
Gedanken, Geist und Ich auf neurobiologische Vorgänge reduzieren zu
können. Die Neurowissenschaftler verheben sich bei diesem Versuch. Und
Schulte plädiert energisch für seine eigene konkrete Seele jenseits
von Metaphysik und Neurobiologie.
John Rateys Buch endet mit einem Kapitel über „Pflege und Ernährung“ des
Gehirns, damit es der Mensch mit seinen Möglichkeiten entfalten und
dessen Risiken minimieren kann. Diesem Interesse widmet Gerald Hüther
ein ganzes Buch. Seine „Bedienungsanleitung für ein menschliches
Gehirn“ reißt den Leser erst nach etlichen Seiten mit. Was sich
im Titel so technisch liest, entpuppt sich schließlich als ein frisch
und eingängig geschriebenes Buch. Es verschiebt erstens den Schwerpunkt
von der Funktions- zur Anwendungsbeschreibung des Gehirns. Und es lenkt zweitens
den Blick vom Gehirn als Denkapparat zum Gehirn als Sozialorgan. Das gelingt
Hüther überzeugend. Vielfach anschlussfähig. Das Gehirn ist
primär Organ unserer psychosozialen Kompetenz. Fühlen, Denken und
Handeln haben eine gemeinsame neurobiologische Grundlage. Die Fülle
damit zusammen hängender neuerer Erkenntnisse wartet noch darauf, in
Erziehung und Therapie aufgearbeitet zu werden. Die Analogie der „Bedienungsanleitung“ zum
Computermodell ist eine Provokation, denn was das menschliche Gehirn als
Sozialorgan zu leisten vermag, hat mit einem Computer wenig zu tun. Der schwerste „Bedienungsfehler“ eines
Gehirns ist die Unterdrückung und Abwehr von Betroffenheit und Selbstzweifeln.
So kann ein Mensch abstürzen und merkt es nicht einmal. Dann passt „Bedienungsanleitung“ wieder.
Mit ihr gelänge ein menschliches Gehirn.
Dr. Norbert Copray
Rezensierte Bücher:
Peter Düweke: Kleine Geschichte der Hirnforschung.
bsr 1405
Colin McGinn: Wie kommt der Geist in die Materie? Beck. 267 Seiten
Gerald Hüther: Bedienungsanleitung für ein menschliches Gehirn.
Vandenhoeck & Ruprecht. 139 Seiten
John J. Ratey: Das menschliche Gehirn.
Walter. 477 Seiten
Günter Schulte: Neuromythen.
Zweitausendeins. 252 Seiten
|