Fairness – damit die Seele wieder Tritt fasst

Dr. Thomas Wagner

Podiumsgespräch, Fachinterviews und Workshops am 21.9.2019 im Haus am Dom, Frankfurt am Main.

Studienleiter Dr. Thomas Wagner begrüßte die Teilnehmer seitens der Rabanus-Maurus-Akademie und die Mitveranstalter Fairness-Stiftung und Leserinitiative Publik-Forum e.V. im Haus am Dom in Frankfurt am Main.

Dr. Norbert Copray, geschäftsführender Direktor der Fairness-Stiftung, führt in den Fairness-Thementag ein:

"Die heute maßgebliche Frage ist: Wie gibt es Hoffnung für psychisch belastete und erkrankte Menschen? In welcher Weise ist Genesung auch durch Teilhabe möglich? Wie ist es, wenn ein Mensch aus seiner psychischen Beschwernis und Erkrankung heraus oder durchaus auch mit ihr wieder Tritt fasst?

Fast jeder dritte Deutsche zwischen 18 und 65 Jahren leidet mindestens einmal pro Jahr unter einer psychischen Störung. Psychische Belastung ist für viele Menschen Alltag geworden. Doch Gesellschaft und Wirtschaft tun sich schwer, für psychisch belastete und erkrankte Menschen Wege zu bahnen und zu begleiten, die sie dabei unterstützen, die Situation zu überwinden. Für die gesellschaftliche und arbeitsmäßige Integration und Inklusion fehlt es vor allem an Fairness. Fairness durch Überwinden der Vorurteile gegenüber psychisch erkrankten Menschen, Fairness durch menschenwürdige Ansprache und Begleitung, Fairness durch stärkende und ermutigende Rahmenbedingungen. Dazu gehört auch, durch Information und Reflexion die Angst vor psychisch erkrankten Menschen zu nehmen und zu Begegnung und Kommunikation zu motivieren.

Dr. Norbert Copray

Im Gespräch mit drei Fachfrauen, die zugleich selbst von psychischer Erkrankung betroffen waren, möchte ich hier auf dem Podium diese Aspekte erörtern und vertiefen. An Nachmittag bieten sie jeweils eigenen Workshops an. Derr Vormittag wird vor und nach der Pause unterbrochen von Interviews mit zwei Vertretern des hessischen EX-IN – Vereins.

Die Fachfrauen, die ich für das Podiumsgespräch begrüße, sind

  • Claudia Mönius. Sie ist Diplom-Kulturwirtin M.A., Coach, psychiatrieerfahren
  • Margret Osterfeld ist Psychiaterin und Psychotherapeutin, derzeit mit einem Mandat bei den Vereinten Nationen in Bezug auf Psychiatrie und Menschenrechte tätig, psychiatrieerfahren
  • Christiana Wirtz ist von Hause aus Historikerin, Journalistin und Redakteurin sowie selbständige Coach, und auch psychiatrieerfahren.

Herzlichen Dank, dass Sie bereit waren, hier mit Ihren Erfahrungen und Erkenntnissen öffentlich ins Gespräch zu gehen und mit Ihren Erlebnissen und Ausführungen eventuell anderen wichtige Hinweise zu geben. Seien einige von uns selbst betroffen oder verwandtschaftlich oder am Arbeitsplatz beteiligt oder daran interessiert, mitunter engagiert, für eine humanere Gesellschaft, in der Menschen mit psychischen Erschwernissen oder Erkrankungen wieder Tritt fassen, teilhaben und gesunden können".

Claudia Mönius

Claudia Mönius hat einen Abschluss als Industriekauffrau, und ein Universitätsdiplom als Kulturwirtin. Nach mehrjährige Tätigkeit bei Trägern der beruflichen Rehabilitation (Integration von Menschen mit Behinderung in den ersten Arbeitsmarkt) sowie mehrjährige Tätigkeit in Aufbau, Leitung und Marketing von Einrichtungen für Menschen mit Behinderung. Mehr als zehnjährige Erfahrung in Aufbau und Begleitung von Initiativen zur ambulanten Nachsorge von Menschen mit erworbenen Hirnschädigungen (z.B. Schlaganfall, Schädel-Hirn-Trauma). 2005 entschloss sie sich, sich selbständig zu machen und 2006 die "Mutmacherei" zu gründen mit Beratung und Begleitung bei Fundraising, Projektentwicklung und Öffentlichkeitsarbeit. 2018 erschien ihr Buch "Feuer der Sehnsucht. Spiritualität einfach leben" im Gütersloher Verlagshaus.

Mönius selbst erlebt als Kind einen wenig kommunikativen, kriegsgeschädigten Vater und eine Mutter, die häufig in der Psychiatrie ist. Zwischen 9 und 14 Jahren erfährt sie sexuellen Missbrauch durch den Gemeindepfarrer, tritt später aus der Kirche aus, will von Religion erst mal nichts wissen. Sie gerät später in eine mittelschwere Depression und begibt sich 10 Jahren in eine intensive Psychotherapie. Sie betet sich durch die Depression hindurch mit Unterstützung eines sehr verständigen Psychotherapeuten. Als Mönius glaubt, das Schlimmste mit Gottes Hilfe überstanden haben, wird bei ihr Lungenkrebs festgestellt, gerade als sie ihre "Mumacherei" eröffnen will. Mönius glaubt, dass aus der Haltung mehr bewirkt werde als aus der Handlung, weil die Haltung Erfahrungswissen ist. Spiritualität, die für sich auch jenseits von Religion und Kirche wichtig sei, verstehe sie als ‚Durchlässigkeit', was auch die anderen Gesprächsteilnehmerinnen so positiv aufnehmen konnten.

Dr. Norbert Copray, Margret Osterfeld

Margret Osterfeld ist als Psychiaterin selbst Psychiatriepatientin geworden. 1999 begann bei ihr eine Psychose; sie wurde zwangseingeliefert. Sie hat – auch als pharmazeutisch-technische Assistentin - viel Wissen und Erfahrung im Umgang mit Medikamenten. Osterfeld, die viele Jahre Oberärztin an einer Klinik in Dortmund war, hat mehrere Bücher zum Themenkreis mitveröffentlicht und Beiträge geliefert. Sie stellt klar: Medikamente sind keine Heilmittel; sie unterdrücken Symptome, bringen aber keine Heilung. Sie besteht auf einer besseren Aufklärung von Patienten über die Anwendung von Maßnahmen und hat dazu auch einen eigenen Leitfaden für die Behandelnden verfasst. Genetisch sieht sie keine Gründe für psychiatrische Erkrankung wie in ihrem Fall. Vielmehr liegen die Gründe in der Erziehung, in der Sozialisation und im gesellschaftlichen Umfeld beziehungsweise die Reaktion eines Menschen darauf. Vehement sieht sie die Notwendigkeit, einer neuen Psychiatriereform, die den Patienten tatsächlich mehr Aufklärung und Mitentscheidung einräumt. Es gäbe einen Mythos der Chronifizierung, der zur Stigmatisierung von Patienten beiträgt. Dagegen geht die Recovery-Bewegung an.

Christiane Wirtz

Christiane Wirtz berichtete in ihrem Buch "Neben der Spur" wie sie durch eine Psychose komplett abrutschte, lässt dabei auch Ärzte, Psychologen, Anwälte, Eltern, ehemalige Kollegen zu Wort kommen. Sie ist 34, als plötzlich die erste Episode einer Psychose auftritt. »Schizophrenie« lautet die Diagnose. Diese schwere Krankheit von großer Zerstörungskraft ist nach wie vor stark angst- und schambehaftet, und es herrscht große Unkenntnis, obwohl Millionen Menschen in Deutschland von ihr direkt oder indirekt betroffen sind.

Die sozialen Konsequenzen dieser Mischung aus Krankheitsfolgen, Unkenntnis und Ablehnung bekommt Christiane Wirtz grausam zu spüren. Sie verliert alles: Job, Freunde, Eigentumswohnung, Altersvorsorge. Das Leben war vorbei. Aber darf die Gesellschaft zulassen, dass Menschen so tief fallen? Wirtz fordert eine breite Debatte über psychische Krankheiten, ein Ende der Diskriminierung. Sie appelliert an die soziale Verantwortung der Gesellschaft. Ihre Botschaft an die Betroffenen: Lasst Euch nicht stigmatisieren. Und an die anderen: Baut Vorurteile ab und erkennt, dass eine Krankheit Menschen nicht aussondern darf, dass sie während und nach einer Psychose Solidarität verdienen.

Im wechselseitigen Gespräch verdeutlicht sie, dass die Medikamente sehr viel Lebensfreude nehmen können, die Libido einschränken, eventuell die Lebenszeit verkürzen, oft Gewichtszunahme und Diabetes mit sich bringen können. Deswegen sei das Ausschleichen aus den Medikamenten ein eigenes, wichtiges Thema, um das sich Patienten aktiv kümmern sollten. Ihre kritische Sicht auf die Medikamente teilt auch Margret Osterfeld. Wichtig sind Mönius und Wirtz, den Eigensinn von Menschen zu stärken und zu achten. Mit ihrem neuen Buch "Das Katzenprinzip" will Wirtz per Buch und Coaching eine Methode vermitteln, die sieben Regeln parat hat, um wieder auf die Füße zu kommen und was aus seiner Krise zu machen.

In einem gesonderten Interview spricht Dr. Norbert Copray mit Andreas Jung, Vorsitzender des hessischen EX-IN - Vereins sowie der Leiter der Fortbildung zu Genesungsbegleitern, und Julia Kistner, die als ehrenamtliche Genesungsbegleiterin tätig ist. 2013 hat sich in Marburg der Verein EX-IN Hessen e.V. gegründet. Ziel des Vereins ist es, in der Öffentlichkeit und Fachöffentlichkeit unseres Bundeslandes darauf hinzuwirken, dass Menschen mit psychischer Erkrankung ihren Platz in der Gesellschaft finden auch im Hinblick auf das Thema "vollwertige Arbeit". Es gibt Ausbildungskurse für GenesungsbegleiterInnen und auch Informationsveranstaltungen zu EX-IN-Themen. Der EX-IN-Hessen Verein hat den Walter Picard Preis 2016 des Landeswohlfahrtsverbandes gewonnen.

Andreas Jung

Andreas Jung verdeutlicht, dass jeder Mensch das Potenzial zur Genesung hat. Der Mythos von der Unheilbarkeit müsse endlich überwunden werden, weil damit auch die Chance auf Überwindung der Stigmatisierung und eines neuen Zugangs zur gesellschaftlichen Teilhabe ermöglich werde. Jede Person kann Verantwortung übernehmen und an allen Entscheidungen, die sie betreffen, beteiligt sein. Und: Jeder Mensch weiß, was hilfreich für sich ist.

Im Rahmen der Arbeit von EX-IN lernen Menschen mit psychischer Erkrankung aus der eigenen Geschichte, nehmen Abstand zu dieser Geschichte, ordnen und sortieren sie. Sie hören und bearbeiten auch die Erfahrungen anderer. Aus dem Wissen über mich und meine Geschichte und die Geschichte der anderen wird ein Wir-Wissen. Dieses Erfahrungswissen kann die bisherige Arbeit in der Psychiatrie und psychosozialen Versorgung psychisch Erkrankter erheblich verbessern.


Julia Kistner schildert an ihrer eigenen Biographie wie hilfreich für sie die Fortbildung zur Genesungsbegleiterin gewesen ist. Jetzt würde sie sich über einen bezahlten Auftrag oder eine Anstellung in diesem Rahmen freuen, in dem sie reflektiert und kompetent Menschen mit psychischer Belastung oder Erkrankung am Arbeitsplatz, in der Psychiatrie oder in der Familie dienen kann. Zur Plausibilität der Genesungsbegleitung muss noch viel getan werden; die konstruktive Wirkung dessen muss mehr in die Begleitung von psychisch angeschlagenen Menschen vor, während und nach der Psychiatrie bzw. Psychotherapie einbezogen werden.

Julia Kistner

EX-IN ermöglicht laut Jung Psychoeducation: eine Bildungsreise in die eigene Seele. Es entwickelt sich eine gewendete Biographie: es geht um eine heilsame Kraft der Sprache und darum, die eigene Lebensgeschichte zu humanisieren. Kistner ist die Entstigmatisierung psychischer Erkrankungen wichtig und die Überwindung ‚familiärer Schweigegelübde', die in schwierige und belastende Situationen hineinführen.

Die Interviewpartner und die Podiumsteilnehmerinnen waren sich einig, Gesundheit als Balancezustand zu verstehen, die psychische Erkrankung als Teil einer solchen Balancearbeit begreift.

Dr. Copray bedankte sich bei Andreas Jung, Julia Kistner, Claudia Mönius, Margret Osterfeld und Christiane Wirtz für ihre engagierte Mitwirkung beim Gelingen des Fairness-Thementages und leitete dann zu den Workshops am Nachmittag über:

  1. "Selbstbefähigung fördern. Wie man psychisch erkrankten Menschen helfen kann, wieder in der Gesellschaft Tritt zu fassen"
  2. "Der Pfad der Emotionen. Wie man zum Mut kommt"
  3. "Was es braucht, selbst wieder Tritt zu fassen. Das postkritische Leben".

Fotos © Ute Victor