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Prof. Dr. Hans Lenk, Karlsruhe
Fairness in der Siegergesellschaft?
Doch es gibt die Fairness, es gibt auch sportliche Fairness; es gibt hervorragende Beispiele des besonders fairen Einhaltens von Regeln und auch normale Erfahrungen fairen Verhaltens - sozusagen des "Fair-Haltens" sowohl im Sport, selbst im Hochleistungssport, wie auch in der beruflichen und wirtschaftlichen Leistungs- und Konkurrenzwelt. Aber natürlich trifft das "Sich-fair-Halten" ebenso auf Schwierigkeiten und Probleme in der Praxis - und zwar auf desto größere, je schärfer die Konkurrenz ist, wie sie etwa im Höchstleistungssport oder durch die verschärfte wirtschaftliche Konkurrenz im Zuge der Globalisierung anwuchs und immer noch wächst. "Fairness", so könnte der berühmte Verfasser des Wörterbuchs des Teufels, Ambrose Bierce, definiert haben, "Fairness is a virtue extolled in public by those who are about covertly to betray and undermine it" . Wie umschrieb der bekannte Kabarettist Dieter Hildebrandt die allerexklusivste Sportart "Fair play"?: "...das Foul so versteckt machen, dass der Schiedsrichter es nicht sieht"! Fairness - plakativ gewürdigt, selten befolgt; Fairness - je lauter gepredigt desto leichter umgangen. In der Tat: Die Praxis macht die Schwierigkeiten. Idee und Ideal sind gut; mit der sozialen Wirklichkeit, der Praxis, dem menschlichen Umgang hapert es vielfach: menschlich-allzumenschlich - oder gar: allzu menschlich-unmenschlich manchmal in der allzu ernstgewordenen Konkurrenz? Ideale sind schön - und auch nötig, zumal sie darauf angewiesen sind, verbreitet zu werden. Doch wie sagt das afrikanische Sprichwort: "Worte sind schön, doch Hühner legen Eier"! Eine Erkenntnis, die freilich auch dem gebildeten Europäertum der Tradition nicht ganz unbekannt war: Gottfried Seume erinnert uns in seinem Spaziergang nach Syrakus daran: "Nicht das Predigen der Humanität, sondern das Tun hat Wert!" Und der gepflegt-ironische Erich Kästner echote vor acht Jahrzehnten: "Es gibt nichts Gutes, außer man tut es!" Beides gilt natürlich ebenso für die Fairness und das faire Verhalten bzw. den fairen Umgang miteinander - gerade in Bereichen harter, aber geregelter Konkurrenz. Was ist nun, wie definiert sich Fairness? Und wie entstehen diese Schwierigkeiten? Was lässt sich absehen - und was lässt sich tun, um die Probleme und Folgen der Verhärtungen in der Konkurrenz und beim Unterlaufen fairer Regeln zu vermeiden oder mindestens zu vermindern? Fairness ist die ureigenste Tochter des Sports, die Zukunft haben sollte, haben wird und zwar in unserer ganzen Gesellschaft, auch in der Wirtschaft. Fairness ist der Wert, den der Sport sozusagen der anderen großen und umfassenden Kultur vermacht. Dieser Wert ist ein Wert mit besonderem Anspruch, der in unserer Gesellschaft, einer Konkurrenz-Erfolgs-Leistungsgesellschaft in vielen öffentlichen Bereichen uns ganz besonders ans Herz gelegt wird und offenbar sehr wichtig ist. Aber dennoch muss man offen reden, und wir dürfen kein Blatt vor den Mund nehmen - und wir müssen auch sehen, dass es mit der Fairness sowohl in der Wirtschaft als auch im Sport zunehmend schwerwiegende Probleme gibt. In Hochleistungssystemen, die den Erfolg unbedingt und unnachgiebíg anstreben, entwickeln sich zwangsläufig auch rücksichtslose und betrügerische Strategien. Es folgt manchmal geradezu eine heimliche Spaltung der Moral, nach außen hin macht man Lippenbekenntnisse zum Fairness-Prinzip, nach innen folgt man dem geradezu sprichwörtlichen "elften Gebot": "Du sollst Dich nicht erwischen lassen!" Die öffentliche Compliance-Moral einerseits und die heimliche rigorose Erfolgsmoral andererseits ist natürlich nicht nur das Problem im Sport. Es gibt eine Reihe von Ablenkungs- und Abschiebestrategien - einige werde ich noch erwähnen - der Rücksichtslosigkeit und Verhärtung der Konkurrenz in vielen Bereichen unserer Gesellschaft. Allenthalben dürfte erfahrungsgemäß das siegreiche Bestehen in den Wettbewerben, sei es im sportlichen, wirtschaftlichen, sei es im politischen oder gesellschaftlichen Erfolgsbereich, einen zusätzlichen Druck setzen. Ist die Druckverschärfung sozusagen in das System eingebaut, ist der Erfolg allzu gewichtig geworden, dann wirken schöne Reden und Regeln alleine natürlich nicht mehr. Verlangt man nicht dann etwa im Sport geradezu das Unmögliche, wenn man rücksichtsvolle Fairness vom Athleten einfordert und den Ernst der Konkurrenz andererseits existentiell - und das heißt oftmals heutzutage auch finanziell - gewichtiger macht, prämiert und besonders hervorhebt. Man spricht manchmal von den "zwei Codes": "Sieg oder Niederlage", als ob es nichts Anderes gäbe und als ob das nicht schon eine eindimensionale Verkürzung ist. Immerhin war es der große Rudertrainer und Pädagoge, mein Lehrer und Freund Karl Adam, ein oftmals als solcher angegriffener angeblicher "Leistungsfetischist", der gesagt hat: "Nicht gewinnen ist kein Scheitern." Wenn man sich wirklich ehrlich bemüht und arbeitet, darf Nichtgewinnen nicht als Scheitern zugerechnet werden. Im Folgenden werde ich erstens ein bisschen eingehen auf den Begriff der Wettbewerbs- oder Konkurrenzfairness, und zwar in Absetzung von anderen Fairnessbegriffen, die in der Sozialphilosophie häufig diskutiert werden, sog. Beteiligungsfairness zum Beispiel. Zweitens komme ich auf Dilemmasituationen und Systemzwänge zur Unfairness, insbesondere natürlich an Beispielen des Hochleistungssports zu sprechen. Sie sind aber auch allgemeiner aufzuzeigen an so genannten sozialen Fallen, die in vielen gesellschaftlichen Bereichen, natürlich auch in der Wirtschaft, auftreten und vielfach schon erkannt und untersucht worden sind. Drittens möchte ich einige kurze Vergleiche und Unterschiede zwischen der Regelung sportlicher und wirtschaftlicher Konkurrenz, insbesondere in Hinsicht auf die Fairnessproblematik eher andeuten als ausführlich diskutieren. Nach einem Übergangsabschnitt über Unfairness u. a. in der Wissenschaft (viertens) soll noch fünftens über das Bluffen in der Wirtschaft und im Sport gehandelt werden - ein Thema, das mir in gewisser Weise kennzeichnend für eine mögliche fairnessbezogene Unterscheidung zwischen beiden Bereichen zu sein scheint. Schließlich werden sechstens fünfzehn Thesen zusammenfassender Art und ein zusammenraffendes Resümee den Beitrag beenden. Zunächst zum ersten Teil kurz etwas Begriffliches. Ich hatte schon 1961 (veröffl. 1964) versucht, das "formelle Fairplay", also die förmliche Forderung zur Einhaltung von Regeln, Stilregeln von dem so genannten "informellen Fairplay" zu unterscheiden. Es war eine Unterscheidung, die zunächst relativ wenig zur Kenntnis genommen worden, aber immer wichtiger geworden ist. Sie baut natürlich auf auf der traditionellen Auffassung, etwa von Pierre de Coubertin, dem Wiederbegründer der Olympischen Spiele, dass der Athlet über das formelle Fairnessgebot hinaus im "ritterlichen Geist", wie Coubertin das damals noch recht pathetisch nannte, eben in einer Art von quasiritterlicher Gemeinschaft der Partner eingebunden ist und dass die "fairen und gleichen" Wettkämpfe nicht nur äußerlich formell unter gleichen ("fairen") Startbedingungen und Chancen, sondern in einer Art von innerer Verbundenheit - er nannte das "Ritterschaft" - stattfinden sollten. Das formelle Fairplay, die Einhaltung der Spielregeln, die ja auch sanktioniert wird, z. B. vom Schiedsrichter kontrolliert werden soll, ist natürlich eine Mussnorm, wie die Soziologen sagen, also eine sozial etablierte und kontrollierte Regel und institutionalisierte Form von Erwartung, die nicht übertreten werden darf. Dagegen umfasst das Ansinnen des ritterlichen informellen Umgehens miteinander natürlich eher eine Ideal- oder Sollnorm, die nicht eingeklagt werden kann, die aber natürlich den sportlichen Kampf, die sportliche Beziehung, die Partnerschaft mitbetreffen und charakterisieren soll. Natürlich ist die informelle Regal auch mit einem formellen Fairness-Gesetz verbunden, man soll sich ja stets - auch im ritterlichen Geist - an die Spielregeln halten. Es hat hierzu in der Geschichte des Sports eine Reihe von Beispielen hervorragender Art gegeben. Das faire Spiel war ja das Übliche und ist auch heute noch in weiten Bereichen des Breitensports das Normale. Ein berühmtes Beispiel ereignete sich bei den Olympischen Spielen von 1928 beim Fechten. Gaudin war angeblich getroffen worden, aber es war kein Treffer, sondern eine Fehlentscheidung; er sprang vor und sagte: "Ich bin nicht getroffen worden" - und der Punkt wurde dann dem Gegner zugerechnet. Gaudin war immerhin dann glücklich genug, trotzdem noch den Endkampf zu gewinnen, aber die Frage, die ich stellen möchte: Ist das heute im olympischen Endkampf in einer entsprechenden Atmosphäre noch vorstellbar - geschweige denn üblich? Wir haben vor einiger Zeit den anderen Fall eines extremen Gegenbeispiels erlebt. Es geschah in der Tat, dass in der Vorbereitung auf olympische Winterspiele eine amerikanische Eiskunstläuferin durch (wahrscheinlich von ihrer Hauptkonkurrentin gedungene) Leute die Beine mit einer Eisenstange malträtiert wurden, um sie außer Gefecht und außer Konkurrenz zu setzen. Das war zweifellos eine echt kriminell gewordene Eskalation der totalen Erfolgs- und Siegerorientierung - um geradezu jeden Preis. Doch um nun nicht zu negativistisch zu werden, ich kann Ihnen noch ein recht positives Beispiel aus neuerer Zeit erzählen. Vor einiger Zeit (1989) fanden in Karlsruhe die World Games statt. Es sind hieran keine olympischen Sportarten beteiligt, und (daher?) geht es dann entsprechend auch eben gesitteter und harmonischer zu. Da trat das ein, was beim Tauziehen gelegentlich der Fall ist, dass sich ein Athlet im Turnier verletzte. Daraufhin trat die schweizerische Gegenmannschaft nun ebenfalls mit einem Mannschaftsmitglied weniger an, obwohl das nicht von der Wettkampfregel verlangt wird. Aber es ist wohl eine Art von guter Regel oder guter Sitte, um nicht einen "unziemlichen" Vorteil gegenüber der anderen Mannschaft zu genießen, die ja nun ein Mitglied weniger aufwies. Sehr fair - das gibt es also noch! Die Frage ist nur, ob es das auch noch im Hochleistungssport auf olympischer Ebene gibt. Oder wandert die olympische Gesinnung, der einst vielbeschworene "olympische Geist", in diese Art von Freizeit-, Breiten- oder Natursport oder in die World Games bzw. in sog. "New Games" aus? Ich will auf die Wandlungen der Fairnessidee im Laufe der Geschichte hier nicht eingehen; diese sind bekannt. Es ist vielfach dokumentiert, wie sich das Fairnessdenken von der aristokratischen Verhaltensorientierung oder dem Verhaltenskodex der Ritter und Gentlemen wandelte zu einer eher bürgerlichen Verhaltensregelung ohne aristokratischen Kern, wobei die geforderte Chancengleichheit die geordnete, geregelte Durchführung des Wettkampfes garantiert werden soll, die Standesgebundenheit natürlich wegfiel und die formale Gleichberechtigung aller Mitspieler eine Rolle spielte. - Insbesondere trat die Regelung der Konkurrenz immer stärker in den Vordergrund. Dabei ist übrigens heutzutage kennzeichnend (ich komme darauf noch zurück), dass die informelle Fairness immer mehr ins Hintertreffen gerät - und zwar desto deutlicher, je extremer und bedeutsamer die Konkurrenz ist. Man muss generell wohl von einer gewissen Minimaldefinition der "Fairness" ausgehen: Das Gebot der Wettkampffairness umfasst erstens zumindestens das Moment, die wesentlichen Spielregeln einzuhalten: Man spricht von "konstitutiven", also sozusagen das Spiel definierenden Spielregeln; wenn man sie wesentlich verletzte, würde man das Spiel nicht mehr spielen. Wer immer Hand spielt im Fußball, der spielt eben eigentlich nicht Fußball. Boxhiebe sind im Fußballspiel nicht erlaubt, aber eben in der Boxarena. Zweitens ist die Einhaltung sog. regulativer, also sozusagen der innerhalb des Spiels oder Wettkampfs zu beachtenden Regeln und Vorschriften geboten. Wer einen Mitspieler im Fußball "umlegt", spielt trotzdem noch Fußball, wenn er allerdings dies mehrfach und dauernd macht, dann spielt er nicht mehr lange mit - hoffentlich -, sondern sieht die "rote Karte". (Es gibt dabei durchaus fließende Übergänge; denken Sie insbesondere an Eishockey, ich komme darauf zurück.) Drittens gilt meistens die strikte Beachtung des Schiedsrichterurteils - als unverzichtbarer Bestandteil des Fairnessgebots. Viertens wird die Idee der Chancengleichberechtigung und der formalen Gleichheit der Startchancen gefordert - und dadurch zu erreichen versucht, dass man die Regeln so anordnet, dass die Chancengleichheit nach Möglichkeit realisiert und garantiert werden soll. Fünftens und letztens ist immer noch auch die Achtung und Beachtung des Gegners als eines Spielpartners, als einen Mitmenschen gefordert; - also sozusagen die Restidee der informellen Fairness, die somit weiterhin (üblicherweise) in die ideale Auffassung der formellen und generellen Fairness auch eingeht. Die ersten vier Normen oder Regeln erfordern verstärkte Kontrollen. In dem Maße, in welchem die Schärfe und der Ernst der Konkurrenz wächst, wird die informelle Fairness unter Umständen aufgrund der starken und extremen Professionalisierung und des Öffentlichkeitsdrucks zurückgehen oder unter Umständen ja sogar dahinschwinden. Im Hochleistungssport müssten nun die institutionelle Einbettung und verfahrensmäßige Kontrollen dazu führen, dass die Doppelmoral der Fairnessbeschwörung nach außen unter insgeheim unfairen Manipulationen oder Regelübertretung oder Vorteilsnahme außer Funktion gesetzt oder wenigstens i. d. R. wirksam kontrolliert wird: Um Fairness wirklich zum Durchbruch zu verhelfen, müssen wir also ernst machen mit ihr, müssen wir Abschied nehmen von bloßen Lippendienstbekenntnissen oder öffentlichen Alibistrategien, wir müssen sozusagen verfahrensgestützte Kontrollen, Abänderungen, Varianten und unter Umständen sogar Umorganisationen verfolgen bzw. entwickeln. Noch eine kleine begriffliche Abgrenzung. In der Sozialphilosophie und Rechtsphilosophie wird normalerweise von dem Fairness-Prinzip, dem Fairnessgedanken in einem viel allgemeineren Sinne gesprochen (z. B. u. a. von Hart oder Rawls), indem man nämlich meint, dass Menschen hinsichtlich ihrer Anteile bei Güterverteilungen und in Bezug auf ihre Verpflichtungen einen fairen Ausgleich genießen sollten oder jedenfalls die Chancen für einen fairen Ausgleich haben müssten. Sie sollten nicht nur Vorteile ziehen daraus, sondern auch einen "fairen" Anteil als ihre Verpflichtung leisten. Natürlich das spielt bei den Kommunitaristen in der Sozialphilosophie und Gesellschaftstheorie der Zivilgesellschaft heutzutage eine große Rolle. Die Idee der "sozialen Fairness" ist freilich allzu umfassend, um das spezifischer sportliche Prinzip der üblichen Wettkampffairness zu treffen. Insbesondere gilt das natürlich für Rawls' Theorie der Meistbegünstigung der meist Benachteiligten und seine Idee der Güterausgleichsfairness, wie man sie nennen könnte, die sozusagen Ungerechtigkeiten aus der "natürlichen" und der "sozialen Lotterie" des Lebens in gewissem Sinne wenigstens ansatzweise kompensieren sollte. Nun, diese Anteiligkeits- oder Verpflichtungs- oder Güterausgleichsfairness ist hier natürlich nicht gemeint, sondern im vorliegenden Beitrag geht es um die Wettbewerbs- oder Konkurrenzfairness. Diese ist es, die in Wettbewerben des Sports aber zumeist auch der Wirtschaft bedeutsam ist, und darauf werde ich mich hier beschränken. Das heißt, hier ist als "Fairness" die des Umgangs mit Gegnern oder Wettkampfpartnern im geregelten Wettkampf, in einer geregelten Konkurrenz, zu bezeichnen. Dieser Wettkampf, diese Konkurrenz wird ja von besonderen Regeln erst erzeugt ("konstituiert" - daher: "konstitutive Regeln" s. o., Punkt 1) und dann eben auch durch Normen oder formelle Regelungen im Ablauf des Wettbewerbs geregelt. "Fairness" in diesem engen Sinne bezieht sich also auf dieses regelgeleitete Konkurrenzverhalten, also in erster Linie auf eine geregelte Auseinandersetzung - statt allgemein auf das soziale Zusammenleben schlechthin und Chancenausgleich oder Kompensation natürlicher oder gesellschaftlicher Benachteiligungen. Die Idee der Fairness ist nun bedeutsam - und wird um so wichtiger, je mehr die Gesellschaft sich aus einer Ständegesellschaft zu einer Konkurrenzgesellschaft entwickelte, je mehr individuelle Leistung und Erfolg im Wettbewerb wichtig wurden und funktionale Normen der Regelung erforderten. Das Fairnessgebot scheint so in erster Linie eine notwendige Norm bei der Entwicklung zu einer individualistischen, pluralistischen Leistungs- und Konkurrenzgesellschaft zu sein. In diesem Sinne lassen sich natürlich auch der Ursprung und die Übertragung der Idee aus dem Sport auf die allgemeinere Konkurrenz in Gesellschaft und Wirtschaft usw. leicht verstehen. Je mehr die Gesellschaft zu einer Leistungs- und Wettbewerbsgesellschaft wird, desto wichtiger wird eine solche regelnde Verhaltensnorm. Sie hat in erster Linie funktionalen, das heißt eben formal regelnden Charakter; jedoch entsprechen ihr auch eine Einstellung und eine Haltung, die über das Formale hinausgehen sollten, also zählt in gewissem Sinne nach wie vor eine informelle Fairness (s. o. Punkt 5). Doch je formeller die gesellschaftlichen Rollenbeziehungen werden, je schärfer die Konkurrenz wird, desto mehr weicht die informelle Fairnessgesinnung der formellen Regelgeltung - und diese muss eben umso nachdrücklicher kontrolliert werden. Es entstehen Schwierigkeiten, Fallensituationen, Probleme, Konflikte oder sogar eine Art Spaltung der Moral und u. U. eine Art von quasi schizophrener Haltung, in die auch der Hochleistungsathlet hineingepresst wird.
In der Fairnessdiskussion kann und sollte man sich fragen: Kann weiterhin nur der jeweilige Einzelne, der Athlet, der Trainer, der Offizielle oder auch im sekundär übertragenen Falle der Journalist oder der Vereinsvorsitzende allgemein und allein verantwortlich gemacht werden für eine unfaire Aktion oder Strategie? Oder gibt es übergreifende institutionelle Verantwortlichkeiten auch der Verbände für systemhafte Zusammenhänge und institutionelle Handlungen, die weit über die Möglichkeiten der Einzelakteure hinausgehen, ja, unter Umständen diesen vom System her in eine gleichsam paradoxe Konfliktsituation zwingen? Anzuführen wären hier als Symptome die schon erwähnte Doppelmoral des öffentlich verurteilten, vielfach insgeheim geförderten Dopings - oder Beispiele des vom Publikum, sogar von der Presse geforderten, von Trainern insgeheim gelehrten, aber nach außen eher scheinheilig abgelehnten taktischen Fouls im Fußball. Selbst Beckenbauer und Breitner haben gesagt, das taktische Foul gehöre zum Fußball; man müsse es geradezu lernen. Man müsse den Jungen aber beibringen, "richtig" foul zu spielen, also die Notbremsenmoral im Fußball, Eishockey, Wasserball, Handball zu beherrschen. Alle diese Beispiele zeigen, dass der einzelne Handelnde zwischen zwei Lagern in eine konfliktartige Dilemmasituation gerät. Je mehr strukturelle und systemhafte Bedingungen und soziale Konstellationen entscheidende Erfolgsrelevanz gewinnen und bedeuten, je mehr der Erfolg selber geradezu existentielle Ernsthaftigkeit annimmt oder zugeschrieben bekommt, desto mehr wird eine umfassende institutionell-ethische Diskussion über die Verantwortung bei Verbänden und von anderen Institutionen gefordert sein. Man kann nicht nur dem einzelnen Athleten oder der einzelnen Athletin den Schwarzen Peter zuschieben. Befinden sich Hochleistungsathleten im Sport, Akteure in gesellschaftlichen oder wirtschaftlichen Konkurrenzen und auch entscheidende und handelnde Institutionen allgemein - denn das Gesagte gilt natürlich keineswegs nur für den Sport - notorisch in einer solchen Zwangssituation zwischen unterschiedlichen moralischen Fronten? Kann man dem Einzelakteur nach wie vor alle Verantwortlichkeit zuschieben, wenn eigentlich eher oder vermehrt strukturelle Bedingungen ihn in dieses Dilemma gebracht haben oder gar zu zwingen scheinen? Kann man mit der Entwicklung einer Doppelmoral des öffentlichen lippendienstlichen Wohlverhaltens und der heimlich konsequenten Erfolgsmaximierung wirklich und wirksam solchen Dilemmasituationen entgehen bzw. begegnen? Wenn viele oder gar fast alle heimlich von der Verletzung einer sinnvollen allgemeinen Norm, wie der Fairnessregel, zu profitieren versuchen, löst sich aber die Gültigkeit dieser Norm auf. Regelungswirksamkeit und Moral verfallen. Kontrollen werden zum Sündenbock-Suchen und -Abstempeln. Die Dynamik des Dilemmas führt zum Normenverfall. Geraten nun der Sportler, der Wirtschaftler und auch der Politiker, die sich an faire Auseinandersetzungen in der Konkurrenz halten, verdeckte Tricks aufdecken sogar oder scheuen und Foulspiel strikt ablehnen und verabscheuen, nicht einzeln ins Hintertreffen? Liegt hier nicht geradezu eine tragische (Dilemma-)Situation vor derart, dass auch das System der entsprechenden steuernden und kontrollierenden Werte quasi sich selber zerstört? Regelverletzungen, die nicht geahndet werden, erzeugen natürlich, wie man weiß, zwangsläufig Nachahmer. Nicht geahndete Regelverletzungen eskalieren im Sinne einer positiven Rückkopplung, wenn sie nicht (genügend) kontrolliert werden und somit den Verletzer systematisch besser stellen. Es entwickelt sich eine Dynamik der Selbstzerstörung des sozialen Systems; und auch das gilt keineswegs nur für den Sport. Allenfalls bleibt der Schein der Normeinhaltung an der Oberfläche gewahrt, im Untergrund dagegen herrscht geradezu das Gesetz des Dschungels und der Vorteilsmaximierung oder vielleicht sogar Regelanarchie. Ist dies der offen zynische Ausdruck einer - oder gar der (?) - neuen Ellenbogengesellschaftsmentalität in der Wirtschaft und im Berufsleben? Ist es ein neues Fairnessverständnis, etwa wenn ein deutscher Handballnationalspieler ähnlich wie eine Nationalspielerin definierte: "Fairness ist, wenn man sich hinterher entschuldigt." So einfach ist das - scheinbar. Offenbar muss man harte Bandagen im Erfolgskampf anlegen, um überhaupt zum Erfolg zu kommen. Verhärtung und Rücksichtslosigkeit scheinen das Rezept zum siegreichen Bestehen in der Konkurrenz zu sein. In Wirtschaft, Politik, Hochleistungssport oder auch anderen Konkurrenzbereichen, etwa im Wettbewerb der Wissenschaftler, gibt es ja nicht einmal Silbermedaillen - z. B. in der Konkurrenz um Stellen und Aufstieg oder Preise - bis hin zum allzu oft "ausgemauschelten" Nobel- oder Friedens(buch)preis. Dieser Zustand, den ich in einer Vorlesung über konkrete Humanität einmal den Zustand der umfassenden "Ellenbogenisierung" genannt habe, damit das Phänomen ein bisschen auffällt und im Gedächtnis verbleibt - eben durch dieses unschöne Wortungetüm. Wird die Norm nicht oft sozusagen nur noch als leere Hülle verbal mit weichen und vollen Lippen - eben vollmundig - beschworen, während die soziale Realität eines Konkurrenzbereiches untergründig insgeheim ganz anderen Gesetzen, eben denen des Dschungels oder der Wolfsmeute folgt? Das sind zweifellos drastische, aber vielleicht als nicht einmal zu drastische Formulierungen und Fragen, die jedoch der eingehenden Klärung bedürfen. Jedenfalls lassen sich die Probleme des fairen Umgangs mit den Regeln in den meisten Institutionen mit Auszeichnungskonkurrenz nicht mehr bloß mit Blick auf das Individuum allein und auf seine persönliche Verantwortlichkeit lösen. Es handelt sich um strukturelle soziale Problemkonstellationen, die ihre eigene Dynamik entfalten - und dieser kann man nicht lediglich mit Appellen, Marketing und Werbeaktionen in der Öffentlichkeit beikommen. Wird der gutwillige Akteur mit seinen Idealen immer mehr auf der Strecke bleiben? Wird er zudem noch als "blauäugig" oder als "unverbesserlicher Idealist", "Amateur" oder gar "Dummkopf" belächelt? Ist der Faire nur noch der Dumme? (Mir ist das gelegentlich auch schon so gegangen, dass ich als der dumme Faire dastand.) In Amerika gibt es ein sehr kennzeichnendes Sprichwort (ursprünglich wohl vom Baseballspieler Durocher stammend): "Nice guys finish last", d. h. genauer: "Fair guys finish last", "fair fellows fail". Angesichts des erwähnten kontrastverstärkenden Alles-oder-Nichts-Denkens bleiben faire Rücksichtnahme und "ritterliches" Spiel offenbar allenthalben auf der Strecke. Darf der faire, anständige Wettkämpfer, der die Regeln beachtet und den Gegner achtet, nur noch den letzten Platz erreichen (und vielleicht für einen Fairness-Preis des IOC den Kandidaten stellen - oder gar mimen)? Darf das das letzte Wort sein? Offensichtlich nicht. Aber wie soll man in Leistungsbereichen, gerade in trainingsintensiven Hochleistungssportarten unter dramatisch gewachsenem Leistungsniveau und Leistungsdruck nun doch sozusagen eine Art von Abrüstung des Konkurrenzegoismus erreichen können, nachdem man - wie heutzutage nötig - jahrelang, als Hochleistungssportler mindestens ein Jahrzehnt, lang alle Energie, Kraft, Zeit, ja sogar Ausbildungschancen und ähnliches, eingesetzt, alles auf diese eine Karte gesetzt hat? Wenn der Leistungsdruck von der Öffentlichkeit, von Medienvertretern, bis auf wenige Ausnahmen und (insbesondere früher in Zeiten der Block-Konfrontation) auch von Politikern geschürt wurde, der Öffentlichkeitsdruck dazu kam, wodurch geradezu das Anheizen der Eskalation der Erwartungen weitergetrieben wurde, immer mehr Medaillenerfolge eingefordert oder sogar logistisch und sozusagen vorgeplant wurden (und auch heute noch werden), abgerechnet werden und ähnliches, dann eskaliert die Dramatik des Dilemmas. Wenn Professionalisierung, Leistungsprämien, euphemistisch "leistungsbezogene Kostenerstattung" genannt, das Erfolgsdenken dann sozusagen ad oculos publicos dokumentieren, dann gerät diese Geschichte aus der Balance, insbesondere wenn die existentielle Konkurrenz um Ausbildungsplätze, knappe Qualifikationen, Zugänge, Ressourcen usw. hinzukommt. Verlangt man in der Tat nicht das Unmögliche vom Athleten, von der Athletin, wenn man rücksichtsvolle Fairness einfordert und gleichzeitig den Ernst der Konkurrenz so hoch treibt? Wie soll dies angesichts der sprichwörtlichen "zwei Seelen" in der Brust des Athleten und auch des Funktionärs, der zum Erfolg verdammt ist, aber stets fair und sauber bleiben soll, möglich sein? Die Sozialwissenschaftler haben das Modell der so genannten sozialen Fallen entwickelt, um derartige anscheinend unlösbare Konfliktsituationen zu beschreiben. Der Volksmund spricht vom Teufelskreis oder einer Leistungsspirale, einer "Höllenspirale". G. Hardin hat das z. B. in der Überweidung der Allmende schon 1968 in seinem berühmten Artikel (in Science) über die "Tragödie der Gemeingüter" ("The Tragedy of the Commons") geschildert, wie sozusagen der Zwang zur Destruktion in das System eingebaut ist. Ich will das im einzelnen nicht schildern, dafür ist hier weder Zeit noch Platz (Es geht um die Überweidung der Gemeinschaftsweiden in der Sahelzone, wenn der individuelle Besitz an Vieh das Statussymbol ist.). Aber wir können uns fragen, ob es so etwas gibt wie eine "Tragödie der Fairness und Moralwerte" - ganz nach diesem Muster. Vielleicht kurz noch dies. G. Bateson, ein berühmter Psychoanthropologe und Ethnologe, hat eine ähnliche Theorie wie die Theorie der sozialen Fallen entwickelt, die er natürlich stärker auf die Psychodynamik abhob. Die Theorie des "double-bind", der Doppelbindungen, der "Beziehungsfallen", wie dieser Ausdruck manchmal übersetzt wird, oder der "Bezugsfallen", so gelegentlich recht schlecht übersetzt. Eigentlich ist ein zwangsmäßiger oder gar zwanghafter Doppelzwang gemeint, das Oszillieren zwischen den Extremen doppelter Standards - eben in dem Sinne einer Doppelzwangsituation. Zum Beispiel ausgemalt an den Beißspielen der Tiere, der Hunde. Denken wir an Hunde oder Affen. Diese Tiere verwickeln sich in Beißspiele, zwicken einander spielerisch. Doch gleichzeitig wissen sie, dass ihre Spielpartner und auch so sie eben nur spielen (sollen). Sie signalisieren sozusagen auf einer höheren Ebene gleichzeitig die Mitteilung: "Ich beiße dich nicht wirklich, ich spiele mit dir, ich mag dich". Diese höherstufige Mitteilung ist ganz wichtig und entdramatisiert die Aggressivität des Spiels auf der eigentlichen Aktionsebene: "Es ist nur ein Spiel!" Diese notwendige Mitteilung entdramatisiert. Freilich ist nun derjenige Mensch, der sich zu sehr und total in das Spiel einläßt, nach Bateson "erstaunlich unfähig", zu diesen höherstufigen einschränkenden entdramatisierenden Mitteilungen zu gelangen. Der Spieler ist also offensichtlich manchmal nicht mehr imstande, diese übergeordneten Mitteilungen über den Rahmen und die Einschränkung zu verstehen, und er neigt dann tendenziell in diesen paradoxen Situationen und Anforderungen zur Entwicklung einer schizophrenen Geisteshaltung. Bei Bateson ist das Double-bind geradezu eine Vorstufe der Schizophrenie. Man müßte das weiter ausführen. Es bedarf aber keiner näheren Ausführung, um diese Deutung des Spiels auf die des Wettkampf- und Hochleistungssports bzw. der Wirtschaftskonkurrenz zu übertragen. Zumal im Zumal im Höchstleistungssport greift sie eigentlich noch viel überzeugender, weil hier dieses Oszillieren an der Grenzscheide viel deutlicher ist und die spielerische Mitteilung. "Dies ist doch nur Sport" nur allzu oft vergessen wird. Hochleistungssport nimmt, nahm recht allgemein wirklichen Ernstcharakter an, wird so übergewichtig, dass er tatsächlich zu einer Verstrickung in eine Falle führt - in diesem Sinne der Double-bind- - der Doppelzwang-Situation. Der Athlet kann unter Umständen sogar schizophrenieähnliche Geisteshaltungen entwickeln. Verstrickt in die Doppelbindung zwischen Ernstcharakter und spielerischer Fairness hat der heutige Hochleistungssport offenbar die Züge einer geradezu paradoxen Polarität in diesem Sinne des Doppelzwangs angenommen. Quasi strukturhaft bedingt oder systemhaft erzeugte schizoide, und also zwanghafte Züge kennzeichnen im Extremfall den verbissenen Ernst des Athleten, der sich in dieser Verstrickungssituation findet. Angeheizt durch öffentlichen Druck, durch übertriebene und besonders betonte Bedeutsamkeit und Existenzernst einerseits steht er vor der ständigen kaum noch geglaubten, nur noch beschwörend appellativ wirkenden Zurücknahme durch die Fairnessregeln andererseits. Dies scheint zumindest gewisse Neurosen zu fördern oder die Verstrickung in eine quasi schizoide Situation herbeizuführen. Kein Wunder, dass der Athlet dazu neigt, Vorteile aus der Situation der sozialen Falle zu ziehen, indem er eben Regeln, wenn er das ungesehen oder, ohne erwischt zu werden, tun kann, umgeht, heimlich zu brechen versucht, um sich von dieser relativen Selbstbevorteilung gegenüber dem Gegner nun selbst irgendwie auch ein größeres Teil abzuschneiden. Das ist natürlich eine Dynamik, die zur Verletzung von solchen Regeln wie der Fairnessnorm führt. Das sogenannte 11. Gebot: "Du sollst dich nicht erwischen lassen", gilt geradezu als gesellschaftliche Leitregel - keineswegs nur gegenüber dem Finanzamt.
Der dritte Teil des Vortrags bezieht sich auf Beispiele auch aus der Wirtschaft und der Politik. Auch dort kennen wir ja die entsprechenden Schwierigkeiten, die Konflikte, die ich geschildert habe, wenn etwa politisch motivierte Rückzüge aus Geschäft mit einem diktatorischen System, das Menschenrechte verletzt, von Wirtschaftsunternehmen anderer Staaten gerne benutzt werden, um ihrerseits die Lücke zu springen, das Embargo zu umgehen oder offen zu durchbrechen. Denken Sie nur an den Waffenhandel, der natürlich ganz besonders mit "harten Bandagen" arbeitet, offen oder heimlich. Fairness scheint zur Farce zu degenerieren, wenn man Boykottbewegungen betrachtet. "Non olet" meinten die Römer schon, "Geschäft ist Geschäft" unser Volksmund: "The business of business is business - not ethics" sagte ein Vertreter einer amerikanischen Business-School in einer angesehenen Universität, als man von philosophischer Seite anfragte und anbot, ob man nicht auch Kurse über Business-Ethics durchführen und mithelfen könnte. Das also wünschte man nun gerade nicht so gerne. Genuine Ethik würde nur stören. Wie gesagt, auch in der Wirtschaft wird mit harten Bandagen konkurriert - zumal in der Globalisierungsdynamik von heute, in der es um die wirtschaftliche(n) Existenz(en), um das sprichwörtliche "Überleben" z. B. vieler mittlerer und kleiner Firmen geht. Fairness ist hier oft nicht einmal geboten, sondern verkommt leicht zu bloßen Lippenbekenntnissen und Sonntagspredigten. Manche, wie ein typischer Vertreter der Texaner, die ja immer für bissigen Witz gut sind, Burleson, sagte schon Mitte der 60er Jahre: "Ethik ist ein Fass von Würmern". In der internationalen Konkurrenz um Markbeherrschung ist Fairness offenbar geradezu "out" (die Jugend von heute würde gar sagen: "mega-out"). Man fühle sich "daran nicht gebunden", meinte ein Vorsitzender eines großen japanischen Konzerns und als er gefragt wurde, ob es in Japan ein Fairnessverhalten unter den Wirtschaftsbossen bzw. den großen Firmen zumal gegenüber ausländischen Konkurrenten gibt, wollte er von "Fairness" "überhaupt nicht reden": Das sei ein Begriff, den jeder anders interpretiere. Wörtlich: "Zweifellos haben wir da andere Regeln." Zu welchen Missbräuchen der Konkurrenzkampf in der Geschäftswelt führte, zeigte sich im Anschluss an die internationale Ausmaße aufweisenden Lockheed-Bestechungsskandale schon vor mehr als zwei Jahrzehnten, als sich viele amerikanische Firmen selbst bezichtigten, dass sie unethische Praktiken verfolgt hätten und Wirtschaftsethiker wie Hoffman und Moore meinten, weitverbreitete Bestechung würde durchaus die faire Konkurrenz unmöglich machen und den Verbraucher schädigen: Aber es handele sich doch um eine weitverbreitete Praxis, die in den USA, wie da bei diesen Untersuchungen herausgekommen ist, viel stärker vorherrsch(t)e, als es irgend jemand für möglich gehalten hätte. Nun, Gott sei Dank, ist das nur im fernen Amerika so - oder? Eine US-Firma, die angeklagt worden war, in ihrem Mundspray einen billigen gesundheitsgefährdenden Alkohol verwendet zu haben und sich deshalb einer staatlichen Untersuchungskommission stellen musste, bestritt, ungesetzlich gehandelt zu haben. Ihr Spitzenmanager bekannte in Washington in aller Härte, Offenheit und Deutlichkeit und das Zitat möchte ich Ihnen nicht vorenthalten: Alle reden von Fairness. Fairnesspredigten, ähnlich wie Marketingstrategien oder die Fairnessinitiativen des deutschen Sports sind natürlich wunderbar, aber sie sind im Grunde eigentlich machtlos, um hier systemhaft etwas wirklich zu verändern. Man erkennt vielleicht nur halbbewusst oder insgeheim, dass man sich ohne grundlegende strukturelle Änderungen der Verhärtung der Konkurrenz mit all ihren Erscheinungen der Brutalisierung, des Allzu-Ernst-Werdens der Unfairness sich erwehren kann, und sucht Flucht und Verdeckung in einer Alibistrategie. Beschwören ist sicherlich besser als Nichtstun, und der Schein- und Werbeaktionismus vermag in gewisser Weise vom eigentlichen oder eigenen Nichtstun abzulenken. Oft reicht der bloße Appell aber nicht einmal zum Kurieren von Symptomen, geschweige denn zum Beseitigen der strukturell systemerzeugten und forcierten Ursachen. Und Lippenbekenntnisse allein genügen eben nicht. Beschwörende Appelle und große Verbalmaßnahmen sind eher ein Zeichen der Ohnmacht - oder stellen vielleicht gar eine unter Umständen von einigen Akteuren zynisch eingesetzten Alibistrategien dar. Oder ist die Gesetzmäßigkeit der Publicitygesellschaft den Funktionären aller Arten schon so unter die Haut gegangen, dass sie in keinen anderen Möglichkeiten mehr denken können als in Publicitymaßnahmen, die nur Worthülsen manipulieren und transportieren und in verbalistische Verbeugungen vor veröffentlichten Meinungen und öffentlichen Meinungsmachern und den Möglichkeiten der Medien abgleiten? Gleichsam als rituelle Referenz vor dem allgegenwärtigen Götzenimage? Hauptsache, das Image stimmt, und der Sponsor zahlt. Imagemanipulation, als Problemlösung traktiert: ein Zeichen eigentlich letztlich erfolgloser Imagegeschaftelhuberei, die gerade von der Verschärfung der eigentlichen Problematik ablenkt, die sie überdeckt, unter Umständen sogar kaschiert? Man darf meines Erachtens zweifellos im Sport den gutwilligen Initiatoren und Mitwirkenden (meistens) kaum eine irgendwie bewusste Vertuschung oder die zynischen Strategien eines Scheinaktivismus unterstellen. Ein solcher Effekt ist aber wohl doch letztlich die Wirkung vieler solcher Maßnahmen zur Imagebeeinflussung und Symptomkurierung. Bleiben diese Aktionen und Aktionismen isoliert, sind sie weitgehend zur Erfolglosigkeit verurteilt und erweisen sich als scheinbar mildernde Beschwichtigungsversuche der entweder ohnmächtigen oder nicht wirklich veränderungswilligen Beflissenheitsapostel der hohen Fairnessmoralität. Kurieren am Image ist immer nur ein Kurieren am Symptom und wirkt dementsprechend - nämlich in Wirklichkeit fast nicht. Dennoch muss man natürlich sagen: Es ist immerhin etwas, wenn man das Problem erkannt hat und ins Bewusstsein, auch in das Bewusstsein der Öffentlichkeit, gerückt hat, aber man hat damit nicht schon die Problemlösung.
Wie kann man angesichts einer so verfahrenen Situation hoffen, dass bloße Appelle und Beschwörungen ausreichend geeignet sind, die Paradoxien, Konflikte und deren Wiederspiegelungen zu lösen? "Olympische Spiele sind billiger als Kriege und erfüllen dieselben Funktionen", schrieb die Japan Times in den siebziger Jahren. Wer den Hochleistungswettkampfsport zur Fortsetzung des Krieges mit anderen, harmloseren Mitteln erklärt oder ihm sogar eine entsprechende Reinigungs- und Entlastungsfunktion beimisst, fördert nur die psychische wie die soziale Verstrickung. Wird der Sport zum Stellvertreterkrieg hochstilisiert, muss die entdramatisierende Mitteilung, dies sei "nur Sport", betulich, erbaulich bis lächerlich wirken. Ähnliches gilt für den internationalen Stellvertreterkrieg um Märkte, um ökonomischen und technologischen Fortschritt, um Pro-Kopf-Einkommen, Handelsüberschüsse usw. Man "erobert" Märkte, "greift" den Gegner an und "überrollt" ihn, "kämpft", "siegt" mit fast allen Mitteln und um fast jeden Preis. Wo bleibt da die metakommunikative Zurücknahme, die sei "doch nur ein Spiel", "nur Sport"? Freilich scheint es gelegentlich von Vorteil zu sein, den Schein zu wahren, Fairness vorzugeben, um insgeheim um so wirksamer von der verdeckten Spaltung zwischen propagierter und praktizierter Handlungsmoral zu profitieren. Die Psychologen sprechen von gespaltenem Anspruchsniveau, wenn jemand öffentlich eine niedrigere Leistungserwartung präsentiert, als er sie insgeheim aufbaut. Gespaltene Moralansprüche funktionieren umgekehrt: Wohlverhalten nach außen vortäuschen, kompromisslose Nutzung des Vorteils (sei es unter Regelverletzungen) nach innen. So kann man den weiteren Vorteil einheimsen, dass Image und Erfolgsbilanz zugleich maximiert werden. Im übrigen zeigen wissenschaftshistorische und wissenschaftssoziologische Studien, dass eine Dynamik des Betrugs auch im Hochleistungssystem der wissenschaftlichen Forschung eingebaut ist: Auch hier widerstreiten gelegentlich, aber nicht unabhängig von Systemzwängen, überzüchtetes Erfolgsstreben in der Höchstkonkurrenzgesellschaft mit der Forscherethik und (z. B. beim Humanexperiment) mit der allgemeinen Moral. Täuschungen, Betrügereien oder unlautere Wettbewerbsvorteile sind besonders in nicht experimentkontrollierten Wissenschaften nicht unüblich, zum Beispiel in der biomedizinischen Forschung an Hochleistungsuniversitäten und Forschungszentren der Vereinigten Staaten. "Publish or perish" - auch dies ist ein kennzeichnender Slogan. "I was under a lot of pressure... I had to earn money for the research, or die", gestand J. H. Cort, ein überführter Fälscher neuer Medikamente von der Mount Sinai School of Medicine, der New York Times (27.12.1982). An die wirksame Selbstkontrolle des Forschers zu glauben, erscheint ebenso naiv wie der Glaube an die Wirksamkeit von Fairnessappellen in Sport, Gesellschaft und Wirtschaft. Die heile Höchstleistungswelt ist eine Utopie oder jedenfalls eine Illusion. Es ist schon vertrackt mit den Systemzwängen, den Verführungen zur Unfairness in systemverschärfter Konkurrenz, zumal bei der Konkurrenz um Geltung, Gelder und Gehälter. Selbst der Präsident der Ärztekammer Niedersachsens meinte, der außerordentlich gestiegene Konkurrenzdruck führe zu einem Ansteigen der "Berufskriminalität unter Ärzten" - etwa in Gestalt des "Abrechnens von nicht erbrachten Leistungen, um das Einkommen zu sichern". Im verschärften Konkurrenzkampf werde auch das Werbeverbot für Ärzte "immer häufiger unterlaufen". (Nur in Niedersachsen?) Glücklicherweise hat die Wirtschaft noch einige Möglichkeiten, das "Ethikfieber" geradezu zu nutzen. The Economist schrieb vor Jahren, Ethik sei nun eine wahrhaftige "Wachstumsindustrie" ("growth economy") geworden, und in einer amerikanischen Fernsehsendung (Doonesbury 10.08.1986) antwortete ein führender Investment-Banker auf die Frage, ob es für Ethik im heutigen Geschäftsklima Raum gebe, überzeugt mit "ja" und zeigte einen Film (mit einer versteckten Kamera aufgenommen) über ein Geschäftstreffen zweier Insider in der Wallstreet beim sogenannten Insider-trading: "Jim, ich brauche einige Insider-Informationen über den Reamco-Aufkauf. Könnten etwa 250000 $ drin sein, Freundchen." "Nein, Stan, kann nicht: Diese Information ist vertraulich." "Wie ist es mit 400000 $?" "Du verstehst mich nicht, Stanley, es ist illegal. Wichtiger noch: es ist falsch, ich könnte damit nicht leben." "O.K., 500000 $." "Zuschlag (deal)". Kommentar des Moderators: "Ethics - a powerful negotiating tool!" Bluff - oder nicht? "Bluff your way in..." nennt sich eine recht beliebte US-Taschenbuchserie.
Ist Bluffen in der Wirtschaft erlaubt? Gesetzlich ist es nicht verboten, außer in der Form von Preisdumping, um Marktvorteile zu erlangen. Manche Wirtschaftsethiker wie Carr behaupten, Bluffen sein nicht nur eine verbreitete, sondern auch eine akzeptierbare Spielstrategie in der Wirtschaft - wie im Pokerspiel. Andere (wie Wokutch und Carson) halten das Bluffen für Täuschung - also für ein Verhalten, das moralisch zunächst falsch ist, erst durch besondere Zusatzrechtfertigung in bestimmten Bereichen zulässig wird. So sei etwas das "Argument der Standardpraxis": Überall in der Wirtschaft werde geblufft, nur dann überzeugend, wenn es keine Wahrhaftigkeitspflicht gegenüber Partnern gäbe und wenn wir von ihnen erwarteten, dass sie uns ebenfalls zu bluffen versuchen. Unterstellt wird hierbei, Bluffen sei in der Wirtschaft ein akzeptierbares Verhandlungsmittel, das sich auf bestimmte Formen bezieht und nicht die Wirtschaftsaktivität samt der Verlässlichkeitsatmosphäre für den Handel unterminiere. Man hält sich an die gesetzlichen Auflagen und rechtlichen Verpflichtungen, wie sie durch die Wirtschaftsverfassung vorgegeben sind, nutzt im übrigen nach dem Motto "Was nicht ausdrücklich verboten ist, ist erlaubt", alle Vorteilschancen. An grundlegender Wettbewerbs-, Chancen- oder gar Startgleichheit für andere Konkurrenten ist der Wirtschaftsakteur grundsätzlich nicht interessiert. Es gibt keine Fairnessregelung zur Sicherung gleicher Startchancen im wirtschaftlichen Wettbewerb. (Staatliche Startchancen, Hilfe für neuzugründende und junge Unternehmen durch Steuervorteile, Bereitstellung von Grundstücken und Gebäuden usw. werden im kommunalen wie staatlichen Interesse gegeben, sie entsprechen aber weder dem Grundinteresse noch der Zielstruktur und Selbstverpflichtung der bereits hart am Markt Konkurrierenden - außer, diese werden selbst subventioniert.) Gnadenlose Verdrängung vom Markt findet statt - unter Umständen selbst gegen qualitativ bessere Produkte, wie die Beispiele der Markteroberung durch Personalcomputer und beim VHS-Videosystem durch Großfirmen zeigen. Wo unerbittliche Verdrängung herrscht, wo Transparenz nach Möglichkeit unterlaufen und jeder Vorteil im Sinne des elften Gebots "Du sollst dich nicht erwischen lassen" brutal genutzt wird, wo weder Interesse noch gesetzliche Regelung für eine wirklich effektive Chancen- und Startgleichheit besteht, kann von wirklich praktizierter Fairness wohl kaum die Rede sein. An wirklicher Chancengleichheit scheinen die Konkurrenten im wirtschaftlichen Wettbewerb beim "Kampf der Märkte und Gedränge" prinzipiell nicht interessiert - weniger jedenfalls als einst die Adepten im antiken "Kampf der Wagen und Gesänge". In der Wirtschaft ist Bluffen auch innerhalb der offenen gesetzlichen Spielräume nicht systematisch durch formelle Fairnessregeln begrenzt - anders als im Sport. Im Sport muss das Bluffen als Finte sogleich erkennbar und im Rahmen der Regeln des Spiels erlaubt sein. Bluffvorteile durch Verletzung von konstitutiven Spielregeln sind im Sport nicht erlaubt. Eng umschriebene konstitutive Spielregeln, welche die Wettbewerbs- und Chancengleichheit wirklich effektiv garantieren und nicht nur in weitem Rahmen gegenüber ungesetzlichen Entartungen abgrenzen, sind im Wirtschaftswettbewerb am Markt praktisch nicht vorhanden. (Außer beim Deutschen Presserat und, eher verbal beschworen, bei den Medienverbänden.) Daher die grundsätzliche Unanwendbarkeit der positiven, garantierenden Seite des Grundsatzes der Konkurrenzfairness im Wirtschaftsleben. Umgekehrt haben wir gesehen, dass im Sport die Gefahr wie die Tendenz besteht, den Fairnessgrundsatz im unkontrollierten Bereich durch Tricks zu Imagemanipulation verkommen zu lassen - je stärker der Erfolgsdruck. Je weniger es nur um symbolische, dafür aber nunmehr um existentielle Dominanz im Sport geht, desto stärker wird Fairness tendenziell erodieren, desto eher werden taktische Fouls, unredliche Tricks und das "elfte Gebot" auch im Hochleistungssport zunehmen. Man könnte argumentieren, Bluffen sei wie in der Wirtschaft eben auch im Sport zulässig, stelle eine weit verbreitete Praxis dar. Dies ist richtig - jedoch nur in eingeschränktem Sinne: Auf dem Spielfeld darf ein Fußballspieler mit Finten und Vortäuschungen arbeiten (im Rahmen der zulässigen, grundsätzlich Chancengleichheit garantierenden Spielregeln). Er darf aber nicht Vorteile dadurch erlangen, dass er insgeheim die Regeln selber bricht und die von diesen garantierte, formelle Chancengleichheit manipulativ zu seinem Vorteil unterminiert, wie etwa durch Doping oder andere nicht erlaubte systematische oder fallweise Verzerrungen von Chancengleichheit. Weil im Wirtschaftsleben eine Definition der Startchancengleichheit und eine Regel der Wettbewerbs-Chancengleichheit (außer über die gesetzlichen Auflagen gegen allzu starke Wettbewerbsverzerrungen) weder garantiert noch von den Konkurrenten selbst vertreten werden, kann von der Regel der Konkurrenzfairness im wirtschaftlichen Wettbewerb nicht in exakt gleicher Weise die Rede sein wie im Sport. Es gibt auch keine irgendwie von höherer Warte aus geforderte oder sanktionierte Ideologie oder Mahnung zur wirtschaftlichen Fairness gegenüber Konkurrenten (außer wiederum der Presserat oder ähnliche Institutionen). Grundsätzlich könnte man dem entgegenhalten, im Höchstleistungssport seien auch die einzelnen Sportler und Mannschaften nicht mehr (etwa vergleichend oder zeitlich gemeint) an einer echten, "fairen" Chancengleichheit des gegnerischen Konkurrenten interessiert, sondern nur noch am Sieg - und sei es um (fast) jeden Preis. Eine solche Argumentation würde aber gerade die Rechtfertigungszielsetzung im Sinne eines Standardarguments verdrehen: Dem Sinn des sportlichen Vergleichs liegen die Chancengleichheit und die Fairness unaufgebbar zugrunde. Institutionen, Intentionen sowohl der Initiatoren als auch der beteiligten Individuen stimmen hier insoweit mit dem Ideal überein. Es geht gerade darum zu fragen, inwieweit der Sport im Zuge einer zunehmenden Konkurrenzorientierung nach dem Muster der kommerzialisierten Wettbewerbe und existentiellen Ellenbogengesellschaft dieses ursprüngliche Ideal verlassen hat. Der Status quo weitgehender Fairnessverletzungen kann nicht in ein Rechtfertigungsargument bzw. zur Begründung der Vergleichbarkeit beider Bereiche münden. Der echte Athlet, die ideale Athletin - seien er oder sie Amateure oder Professionals - ist immer noch (wie übrigens auch das Publikum, zumal das sachverständige) am Gewinnen oder bestmöglichen Bestehen gegenüber annähernd gleich starken Gegnern interessiert. Deshalb suchen hochleistungsmotivierte Athleten qualitätsmäßig hochstehende Wettbewerbe. Sie streben nicht etwa danach, eine quantitative Anzahl untergeordneter Siege zu maximieren. Das gilt gerade auch in Sportarten, die nicht von der kommerziellen Versuchung heimgesucht werden, wie sie in manchen Disziplinen mit einer Olympia- oder Weltmeisterschaftsteilnahme verbunden ist. Ruderer sind beispielsweise - von einzelnen, etwa Einerfahrern, abgesehen - in kommerzieller und finanzieller Hinsicht und bei der Gewinnanhäufung geradezu echte Amateure geblieben - wohl weil ihr Sport nicht genügend telegen und nicht werbewirksam ist. Gern hätte ich noch auf weitere Beispiele und Thesen aus der Wirtschaft eingehen wollen, die insbesondere auch Unterschiede in der Wirtschaft und in der Art des in der Wirtschaft auf Grund gewisser unklarerer Kontrollregeln nicht so leicht kontrollierbaren Bluffens widerspiegeln. Im Sport ist sozusagen die Regel immer noch greifbarer als in der Industriekonkurrenz. Auch der Gegner ist sozusagen noch "greifbarer", weil direkt präsent. Und das macht es natürlich doch irgendwie einfacher. Man kann sich dort auch nicht so ausdrücklich auf bestimmte Auslegungen von Rechtregeln im Sinne des Üblichen ("Was nicht ausdrücklich verboten ist, ist erlaubt" usw.) in Bezug auf alle Vorteilsnahmen usw. herausreden. Man müsste aber auch realistischerweise in der Tat sagen, dass in vielen Lebens- und Konkurrenzbereichen - zumal in professionalisierten Hochleistungs- oder Hochleistungskonkurrenzbereichen - nur noch recht wenig von wirklicher Fairnessgesinnung zu finden oder gar verbreitet ist. Überall hier, doch generell auch im Sport - das haben wir ja gesehen - besteht die Tendenz, dass der Fairnessgrundsatz sozusagen auch zu einer Imagema(s)che nach außen verkommt und nach innen unter Umständen eben auch unfaire Praktiken üblich werden. Wasserballermoral: "Nach oben brav - und (u. U. gar) lächeln, unter dem Wassergürtel (zu)treten." Ich will Ihnen wenigstens noch ein schönes Beispiel aus dem Sport bringen, bevor ich zu den zusammenraffenden Schlussthesen komme. Das Beispiel ist von K. P. Thaler, immerhin unter dem Motto und Titel "Spielregeln akzeptieren und sich durchbeißen" veröffentlicht! In einem Interview, schildert er einen Radrenn-"Klassiker", jenen von Paris nach Brüssel, in dessen Verlauf einer von zwei Fahrern, die sich an die Spitze gesetzt haben, so am Ende ist, dass er zu dem führenden Fahrer gesagt hat:
In Hochleistungssystemen, die den Erfolg absolut setzen, unbedingt unnachgiebig anstreben, entwickeln sich zwangsläufig rücksichtslose und auch betrügerische Strategien, um zum Erfolg zu gelangen. Dabei gilt es jedoch, gelegentlich das sogenannte "Elfte Gebot", die heimliche Obernorm sozusagen: "Du sollst Dich nicht erwischen lassen" nach außen hin zu wahren. Es folgt zumeist eine "Spaltung der Moralen" in eine zum Teil heimliche Erfolgs- und eine öffentliche Compliance-Moral bei Akteuren, unter Umständen aber auch bei Organisatoren, Managern und Betreuern. Damit gehen Verwischungs- und Abschiebungsstrategien, Alibi- und Ablenkungstaktiken bezüglich der Verantwortlichkeiten einher. Das "Elfte Gebot" dominiert offensichtlich auch im Spitzensport (Doping) - wie auf der Autobahn und gegenüber den Finanzen in der Wirtschaft. Verletzungen der traditionellen Regeln gelten nicht nur dort allenfalls noch als Kavaliersdelikte. Wer nimmt sie noch ernst - außer eben jenen, die sie beschwören, - oder jenen, die erwischt werden? Verhärtung und Rücksichtslosigkeit scheinen das Rezept zum siegreichen Bestehen in wirtschaftlichen, politischen und zumal sportlichen Auseinandersetzungen zu sein. Der zunehmende Konkurrenzdruck in allen Bereichen symbolischer und realer Wettkämpfe könnte nur durch bessere Beachtung der Regeln der Auseinandersetzung, durch Verschärfung der Kontrollen und durch eine Verbreitung echter Fairnessgesinnung aufgefangen werden. Doch hieran mangelt es überall. Ist die Druckverschärfung in das System eingebaut, ist der Erfolg allzu gewichtig, ja existenzentscheidend, ist der Sieg zur Hauptsache geworden, so wirken Vereinbarungen und Appelle kaum noch, solange Umgehungsmöglichkeiten, verdeckte Manipulationen der Erfolgsbedingungen, unentdeckte Tricks, taktische Vorteilsnutzungen, verheimlichte Regelverletzungen möglich sind. Regeln und Verträge werden immer wieder missachtet und verletzt - selbst von denen, die sie lautstark propagieren. Wie lange hielt man sich an sogenannte Fairnessabsprachen in politischen Parlamenten und bei Wahlkämpfen? Es ist natürlich die Frage, ob etwa im Sport solche Deeskalierungsmaßnahmen wie marketingförmige Fairnessinitiativen ausreichend sind, wenn z. B. der Hochleistungssport generell eine Widerspiegelung der jetzigen Verhältnisse und Strukturen einer sich verhärtenden "Ellenbogengesellschaft" darstellt. Das Herunterschrauben des Drucks im Sport und der "Singulärsiegerorientierung" wäre sicherlich ein notwendiger und wichtiger Teilaspekt, kann aber das Problem allein nicht lösen; denn die Verschärfung, Zuspitzung und Brutalisierung findet ja auch in Sportarten statt, die keine besonderen Prämien und Verdienstmöglichkeiten versprechen. Und wie kann und wie sollte man den Sport wieder zu seiner "heilen Welt" des gentleman-artigen Wohlverhaltens zurückführen können, wenn doch allenthalben Einigkeit herrscht - selbst bei Wirtschaftvertretern -, dass der Sport "eben auch ein 'Spiegel der Gesellschaft', mit ihrem Leistungs- und Konkurrenzprinzip" sei? Verlangt man nicht das Unmögliche, wenn man gleichzeitig rücksichtsvolle Fairness einfordert und den Ernst der Konkurrenz zu existentiell (sprich: finanziell) gewichteter Verschärfung der Konkurrenz eskaliert? "You cannot have the pudding and eat it" - at the same time!, so lehrt das englische Sprichwort. Die angestrebte Remobilisierung des Fairplay, die Demobilisierung der Unfairness kann nur Hand in Hand mit der Teilabrüstung der kompromisslosen Prinzipien und Mentalitäten der Ellenbogengesellschaft erfolgen - oder durch eine allgegenwärtige, unbestechliche, ihrerseits wiederum der Kontrolle unterworfene Kontrolle der Regeleinhaltung. (Eine solche Kontrolle wäre aber nur durch drastische und wirksame Aktionsmaßnahmen und deren unbestechliche Handhabung erreichbar und erforderte umfassendere Institutionalisierungen (auch der Kontrollen und Regelungen: man denke an die Dopinganalyse-Agenturen).) Fairness und Fairplay sind freilich zu wichtige ethische Orientierungswerte, als dass man sie den Gepflogenheiten der Ellenbogengesellschaft opfern oder gar leichtfertig verramschen dürfte. Im Gegenteil könnten die Ideen und das Prinzip Fairness unter geeigneten Regelungs- und Kontrollbedingungen, bei gelassenerer Einstellung und insbesondere angesichts der eigenständigen, erlebnisorientierten Aufbruchstimmung der jungen Generation auch künftig noch zu einem Leitwert für andere gesellschaftliche Bereiche werden. Also doch noch kein Schwanengesang für die Fairnessidee? Ideen sind notwendig immer utopisch - ethische zumal. Man wird aber nicht die Zehn Gebote deswegen abschaffen wollen, weil sie oft gebrochen werden. Man muss freilich realistisch bleiben und die Kontrollen wirksamer machen und vielleicht auch die Extremforderungen herabschrauben. Realistische und zugleich utopische Forderungen - ein hölzernes Eisen? In der Tat - in gewissem Sinne. Ideen dürfen utopisch malen, sollten dies aber mit Blick auf die Realistik tun und auf Anwendungsbedingungen bezogen werden. Deren Kontrolle und Institutionalisierung (gerade auch durch Anreize, nicht nur durch Sanktionen!) ist nötig, um aus Sonntagspredigten realistische Normen zu machen. Wie für die Geschwindigkeitsbeschränkungen auf den Autobahnen gilt das auch für Fairnessregelungen in Sport, Wirtschaft und Gesellschaft. Die Gesellschaft lebt von der (allgemeinen) Fairnessbeachtung, die sie (als extreme Konkurrenzgesellschaft etwa) nicht erzwingen kann. Können wir zu einer Moderierung der Konkurrenzgesellschaft im Sinne einer wirklichen Fairnessgesellschaft kommen? Wir müssen es hoffen, wünschen und dafür arbeiten. Entscheidend sind nicht nur Ideen, sondern auch Institutionen, Kontrollen und dauernde Appelle. Der Fairness eine Chance, eine Gasse! Literatur: Lenk, H. - Pilz, G.: Das Prinzip Fairness. Osnabrück - Zürich: Interfrom 1989. |