Laudatio
Prof. Dr. Dorothee Sölle

Laudatio zu Fairness-Ehrenpreisverleihung 2001 an Prof. Dr. Dr. Horst-Eberhard Richter

am 1.12.2001

Lieber hoch verehrter Horst-Eberhard Richter,
meine Damen und Herren,

ich möchte als erstes den Schriftsteller Richter loben. Er schreibt einfach ein gutes Deutsch, klar und auch bei mehrschichtigen komplizierten Sachverhalten zugleich verständlich, ganz anders als Wissenschaftler oft schreiben und zugleich mit einer immer wieder zutage tretenden Wärme, die Menschen berührt. Ich vermute "es liegt daran, dass er Intelligenz und Gefühl nicht in zwei verschiedene Tüten packt, die man, weil sie nichts miteinander zu tun haben, höchstens getrennt genießen darf. Ich möchte Ihnen ein Beispiel geben, es ist ein Satz über die Hitler- und die Adenauerzeit, die einiges gemeinsam haben. Eine autoritätsergebene Gesellschaft hatte ihren Gehorsam geräuschlos nur von dem Verlierersystem ab- und an das Siegersystem angekoppelt."(Wanderer, 108) Das schönste Wort in diesem Satz ist ein Adverb; "geräuschlos", wir haben das, was Richter uns mitteilt, gar nicht bemerkt, so glatt ging es. Das Wort geräuschlos ist hier der Pfeffer in der Suppe des Stils.

Richter schreibt aus einer Ganzheit heraus, die ihn zu einem Lehrer und Lerner zur gleichen Zeit macht. Lehrer und Lerner zugleich zu sein ist in der jüdischen Tradition ein zentrales Ziel, das sich im Bild der Jakobsleiter ausdrückt. Die auf und absteigenden Engel stehen dafür, dass wir alle Lehrer und Lerner sein können. Der Traum von der Leiter bedeutet, dass wir alle Zuhören und Antworten, Nehmen und Geben, Empfanqen und Gebären erfahren können. Wir können weitergeben, was wir empfangen, ein Lehrer ist ein Lerner, ein Lerner ist ein Lehrer (Behindertengeschichte). Meister Eckart drückt denselben Grundgedanken in dem Satz aus, dass Gott das Allermitteilsamste sei. Falls wir uns auf der Himmelsleiter befinden, dann gehört beides zusammen. Dann sind wir nicht nur Macher, Erfinder, Entdecker, Produzenten; sondern immer auch Beschenkte, Angewiesene- und Gebrauchte.
Der Versuch, ''die strikte Abgrenzung der so genannten reinen Psychoanalyse von einer Verunreinigung mit gesellschaftskritischen Ansätzen oder gar politischem Engagement zu überwinden“ (83) ist ein Lebensthema von Horst-Eberhard Richter. Keine Angst vor Verunreinigung ist die Voraussetzung dieser notwendigen und schwierigen Arbeit.

Ein zweiter Ansatz für mich, Richter zu loben, betrifft das Verhältnis von Flexibilität und Stetigkeit in seinem Lebenswerk: Ich finde das großartig. Er hat sich immer wieder auf die aktuellen Themen eingelassen, Politik kann im Denken nicht außer Acht gelassen werden, und was wir in den Kölner Nachtgebeten die "Politisierung des Gewissens" nannten, ist eine immer wieder neu zu lernende Flexibilität, eine Präsenz, eine Gegenwärtigkeit, die' sich nicht mit formalen Prinzipien beruhigen kann. Die Wahrheit ist konkret - und die Fairness auch. Was Richter zum Kosovokrieg gesagt hat, ist sein Musterbeispiel für diese Fähigkeit zum Hinhören, zum Wahrnehmen, zum konsequenten Sich-auf-die-Seite-der-Opfer-Stellen, nicht besinnungslos auf die der Sieger.

Aber diese Bereitschaft, sich einzulassen auf das Jetzt, ist bei ihm getragen von einigen Grundüberzeugungen, die vielleicht am deutlichsten in seinem Werk "Der Gotteskomplex"(1979) ausgesprochen sind. Die These des Buches ist, dass der neuzeitliche Abschied von Gott nicht nur unsere Unabhängigkeit und Freiheit aufgebaut hat, sondern vor allem den Glauben an die Allmacht des Menschen zur Folge hatte. Die - in meinen theologischen Augen immer schon problematische Vorstellung von der Allmacht Gottes, mit der ich nach Auschwitz nicht zurecht kam, ist nicht einfach verschwunden, sondern hat sich auf den Menschen, vielleicht genauer, auf den weißen Mann verschoben. Descartes hat das mit seiner Formel, dass wir "Maitres et possesseurs de la nature" sind, klar ausgedrückt.
In seiner Zeit bedeutete das Wort "Besitzer" nicht nur Anteile und Aktien zu haben, sondern auch Sklavenhalter zu sein. Ich erwähne es, weil wir ja in einer Weltwirtschaft leben, die neue Formen der Sklaverei hervorbringt, denken Sie an die billigen, T-Shirts, die wir tragen, oder die elfjährigen Kinder, die sich im Sextourismus verkaufen müssen, falls sie überleben wollen. Denken sie aber auch daran was die "Herren und Besitzer" der Natur antun. Was wir aus der Erde gemacht haben, die Folge des Allmachtswahns.

Die "gewaltträchtigen Allmachtsideen" (54) führen, das ist eine der großen Entdeckungen von Richter, zu der "Krankheit, nicht leiden zu können," und deswegen hassen zu müssen. All diese Krankheiten sind nicht mit der Niederlage Hitlers erledigt. Sie sind auch heute mit der Zerstörung der Taliban nicht beendet. Heute ist dieser Allmachtswahn auf die Weltbesitzer und ihre Organisationen übergegangen, er drückt sich am klarsten in einem Leitsatz von einer glühenden Vertreterin des Neoliberalismus aus, er heißt "There Is No Alternative", so wird die Allmacht der Wirtschaft angeordnet und inszeniert. In der Gegenbewegung wird dieses von Margret Thatcher formulierte Dogma nach seinen ersten vier Buchstaben benannt, es ist das „TINA-Syndrom“, das uns alle schlimmer beschädigt als unsere vielen Hautallergien. Deswegen brauchen wir Ihren Einspruch gegen den Allmachtswahn, auch heute. Ich bin dankbar für diese Kontinuität Ihres Denkens in aller aktuellen Flexibilität.

Die jungen Leute von Attac haben vor kurzem den wunderbaren Satz formuliert "Eine andere Welt ist möglich." Dieser Satz könnte in der Bibel stehen, auch deswegen, weil ich nicht ganz genau weiß, woher sie das wissen wollen. Und so nähere ich mich einer Frage, die ich an Sie habe. "Brauchen wir nicht eine andere Sprache als die der Wissenschaft? Brauchen wir nicht andere Wünsche als die uns diktierten? Leben in seiner Fülle für alle, brauchen wir nicht, um das wünschen zu können, eine andere Kraft als die der rationalen Vernunft? Brauchen wir nicht das Glauben und das Hoffen, um irgendwann das Lieben zu lernen?

Damit bin ich aber schon bei einer Frage, ich als Laudatorin nicht verschweigen kann. Sie können sicher raten, was ich Sie fragen möchte, es ist die Gretchenfrage: "Nun sag, wie hast du´s mit der Religion? Du bist ein herzlich guter Mann, allein ich glaub´ du hältst nicht viel, davon." (Faust I) Dass wir uns mit "unserer kreatürlichen Mangelhaftigkeit aussöhnen" (251) und den Allmachtswahn aufgeben können ist sicher ein Ziel, das auch ohne Religion gedacht werden kann, obwohl Ihre Sprache, lieber Herr Richter, immer wieder auf die Sprache der religiösen Tradition zurückgreift. Die wirklichen Hoffnungen sind nicht wissenschaftlich als erfüllbar nachweisbar. Das heißt aber nicht, dass wir sie aufgeben können. Ich denke, dass Gott auch nicht so allmächtig ist, wie die meinen, die an Omnipotenz glauben. Gott hat in der Schöpfung seine Macht reduziert, er hat uns beteiligt. Er ist nicht sehr glücklich in seinem Himmel, er braucht uns alle.

Lassen Sie mich mit einer Enkelgeschichte schließen, aus der ich viel gelernt habe: Mein Enkelkind, 3 1/2 Jahre alt, räumt alle meine Tassen aus dem Schrank und baut ein Café auf, dann lädt es unsichtbare Gäste ein und bewirtet sie mit unsichtbarem Kaffee. Nach anderthalb Stunden Spielen sagt ihre Mutter: "Du musst aufräumen, wir wollen Abendessen." Das Kind guckt sie nachdenklich an und sagt: "Mama, du denkst immer nur in echt.“ Das Kind weiß, dass man in echt denken muss, dass aber das "nur" tödlich ist.

Da ich nun schon seit bald 50 Jahren in Transzendenz, und das heißt ja wohl "nicht in echt" denke, hab´ ich mich gefragt, warum wir dieses Nicht-Echte brauchen. Transzendenz zu denken heißt, dass das, was jetzt ist und unabwendbar scheint, nicht alles ist. Wir sollten uns nicht kleiner machen als wir sind. Es steckt etwas von dem, was wir "GOTT" nennen in jedem, in jeder von uns. Wir können es vergessen, verdrängen, zumüllen, aber ganz kaputt lässt es sich nicht kriegen.

Lieber Horst Eberhard Richter, Sie sind viel frömmer als Sie zugeben - und das mag ich besonders gern!

Texte aus: H.E. Richter, Wanderer zwischen den Fronten. Gedanken und Erinnerungen. Köln 2000

 

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